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Ein Unbeugsamer

Helmut Kramer zum 80. Geburtstag

Betrifft JUSTIZ Nr. 103 • September 2010

Frauke Höbermann

Ein Unbeugsamer

Ein Porträt anlässlich des 80. Geburtstags von Helmut Kramer, der am 9.10.2010 den Fritz-Bauer-Preis erhält.

Am 23. 1944 stirbt die 19-jährige Erna Wazinski in der Hinrichtungsstätte Wolfenbüttel unterm Fallbeil. Als „Volksschädling“ von einem NS-Sondergericht wegen angeblicher Plünderung zum Tode verurteilt. Eines von vielen Todesurteilen, die in dieser Zeit für Bagatelldelikte verhängt wurden. Dieses eine hat das Leben von Helmut Kramer entscheidend beeinflusst, ihm die Richtung gegeben, der er bis heute folgt – unbeirrt, trotz unzähliger Steine, die ihm immer wieder in den Weg gelegt werden, unbeeindruckt von Anfeindungen, Disziplinarmaßnahmen und Karrierebrüchen.

Es war sein erster größerer Fall als junger Gerichtsassessor Anfang der 60er Jahre: eine Stellungnahme zu einem Antrag auf Wiedergutmachung.

Die Mutter von Erna Wazinski wollte die Rehabilitation ihrer Tochter erreichen. Kramers Votum für eine Entschädigungszahlung an die Mutter löste bei seinen Kollegen Unwillen, ja Empörung aus.

Was hatte die junge Frau verbrochen? Sie hatte aus den Trümmern ihres ausgebombten Hauses einen Koffer mit Kleidung und etwas Schmuck gerettet, konnte aber nicht beweisen, dass es sich um einen Koffer ihrer Mutter handelte. Das reichte für ein Todesurteil gemäß der bereits vier Tage nach Kriegsbeginn erlassenen „Volksschädlingsverordnung“.

Die Rehabilitierungsbemühungen der Mutter endeten 1965 mit der Entscheidung einer Braunschweiger Strafkammer, das Urteil sei rechtsstaatlich in jeder Beziehung einwandfrei und „den Umständen nach sogar zwingend geboten.“

Das wollte Kramer nicht in den Kopf. Die an diesem Todesurteil beteiligten Richter (die nach dem Krieg in Braunschweig weiter unbehelligt amtierten) hätten doch nur die damals geltenden Gesetze befolgt? Und im Nachbarbüro von Kramers Amtszimmer zählte zur gleichen Zeit genau dieses Argument gar nichts. Dort wurde einer der ersten „Mauerschützen“ wegen Totschlags verurteilt. Ein ehemaliger Volkspolizist hatte bei einer Grenzstreife einen tödlichen Schuss auf einen Flüchtling abgegeben. Ihm nützte die Berufung auf den Befehl und die von ihm als Nichtjuristen für verbindlich angesehenen Normen nichts.

Kramer: „Im einen Fall sollte ein juristisch nicht vorgebildeter NVA-Soldat das unerträgliche Missverhältnis zwischen Schießbefehl und Gerechtigkeitsanspruch erkennen und in Sekundenschnelle die Rechtswidrigkeit des ihm von seinem Offizier erteilten Befehls überprüfen können. Im anderen Fall hatten ausgebildete Volljuristen mit der Verhängung nicht nur dieses einen, sondern vieler Todesurteile angeblich völlig korrekt gehandelt“. Für Kramer war das ein Schlüsselerlebnis, eine „folgenreiche Fortbildungsmaßnahme für mein berufliches Selbstverständnis, wirksamer vielleicht als mein gesamtes Studium“, wie er sagt.

In der Tat stecken im Fall Erna Wazinski Ursprünge für fast das gesamte Spektrum von Kramers vielfältigen Aktivitäten: Die Rehabilitierung von Opfern der Nazijustiz, das Öffentlichmachen der Täter und ihrer Taten, die Erinnerung an die Opfer lebendig zu halten, den Richternachwuchs aufzuklären und so auszubilden, dass Ähnliches sich nicht wiederholt; Gerechtigkeit herzustellen über die Grenzen der Paragrafenkorrektheit hinaus und unabhängig von politischen Machtkonstellationen. Kramer gab den Fall Wazinski nicht auf. Nachdem mit ihm gewerkschaftlich organisierte Richter und ein junger Rundfunkredakteur die Geschichte in das öffentliche Interesse gerückt hatten und ein Zeitzeuge bestätigen konnte, dass Erna Wazinski  nicht „geplündert“ hatte, bedurfte es einer erneuten Anstrengung Kramers, ein Wiederaufnahmeverfahren anzuregen, das 1991 mit einem Freispruch für Erna Wazinski endete. Und erst 1998 mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile konnte das Todesurteil gänzlich als Unrecht bezeichnet werden.

Abschließender Erfolg nach mehr als drei Jahrzehnten. Warum hat er nicht an irgendeinem Punkt resigniert? Aufgegeben angesichts einer unbelehrbaren, ihrer selbst sicheren, feigen, um Pfründe und Pensionsansprüche bangenden Übermacht von „Kollegen“?

Warum hat er nicht resigniert?

Wer die Antwort in seiner Kindheit, seinem Elternhaus sucht, wird nur bedingt fündig. In der ländlich-wohlhabenden Familie auf dem „Kramer’schen Hof“ in Helmstedt war man – so berichtet er - nicht für die Nazis, hörte Radio London. Aber als der Vater um seine Wiederwahl in die „Feldmarksinteressentenschaft“ fürchten musste, trat er schließlich 1938 doch in die NSDAP ein. Er hatte dies bis dahin immer abgelehnt – ohne „sich über die Ziele und Untaten der Nazis viele Gedanken gemacht zu haben“ wie so viele Vertreter der damaligen bürgerlichen Kreise.

Als Heranwachsender wurde Schüler Helmut Kramer eher zufällig mit den Verbrechen der Nazis konfrontiert: durch den Kontakt zur Familie eines Schulfreundes, dessen Vater Direktor der Anstalt Königslutter war, in der psychisch Kranke als „lebensunwertes Leben“ umgebracht wurden; durch eine jungeDienstverpflichtete“ in seinem Elternhaus, deren Vater als Kommunist im KZ gewesen war; aus Gesprächsfetzen von Verwandten über „Gaswagenmorde“.

Man hätte zum Täter werden können…

Vor dem Hintergrund dieser „Mitwisserschaft“ hat Kramer sich oft die Frage gestellt, ob auch er die „Gnade der späten Geburt“ für sich in Anspruch nehmen dürfe, so wie es Helmut Kohl tat, der vier Tage später als Helmut Kramer geboren wurde. Kramer: „Wenn das Wort auf eine Pauschalentlastung für meine gesamte Generation hinauslaufen sollte – ohne die Pflicht zur Aufarbeitungwürde ich ein solches Angebot zurückweisen.“ Für ihn bedeutet die Gnade der späten Geburt, dass er nicht zum Täter werden konnte – aber auch nicht weiß, ob er hätte zum Täter werden können – und dass „wir wachsam sein müssen und fragen, welche Ursachen, Vorbedingungen, Strukturen noch heute wirksam sind“.

Wie wirksam sie mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft immer noch waren, hat die Affäre um einen unbekannten Provinzanwalt gezeigt, den 1976 zum niedersächsischen Justizminister berufenen Dr. Hans Puvogel. Kramer wurde auf dessen Dissertation über die Notwendigkeit der „Ausmerzung rassisch minderwertiger“ Menschen aufmerksam gemacht. Als das 1978 bekannt wurde und Puvogel, anstatt sich zu distanzieren, auf seinen Thesen von 1937 beharrte, wurde Kramer aktiv. Er verschickte Auszüge aus der Dissertation kommentarlos an einige Richterkollegen. Puvogel trat zwar zurück, aber der Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident leitete ein förmliches Disziplinarverfahren gegen Kramer ein, der „seine Pflicht zu einem achtungswürdigen Verhalten gegenüber einem Dienstvorgesetzten verletzt“ habe. Mit einer Dienstpflichtverletzung in den Papieren wurde Kramer in einen Zivilsenat versetzt.

Als wichtigen Anstoß für seine Entwicklung bezeichnet Kramer heute „das Aufwachen in den 60er Jahren.“ Der damaligen außerparlamentarischen Opposition habe er die Einsicht zu verdanken, wie leicht sich das menschliche Gewissen beruhigen und einschläfern lasse. Auch um das zu verhindern und die Öffentlichkeit zu informieren über die noch immer – 35 Jahre nach Kriegsende – uneinsichtige, von alten Nazis durchsetzte Justiz organisiert Kramer parallel zu seinen Bemühungen um den Fall Erna Wazinski 1980 die Vortragsreihe „Braunschweig unterm Hakenkreuz“. Der Andrang zu einzelnen Veranstaltungen war manchmal so groß, dass sie mehrfach wiederholt, einmal sogar in die Stadthalle verlegt werden mussten. Die von Kramer herausgegebene Dokumentation der Beiträge wird von Ingo Müller, seinerseits ein unermüdlicher Kämpfer gegen das Vergessen (u. a. „Furchtbare Juristen“, 1987), „als eine der ersten und nach wie vor besten Regionalstudien zur NS-Zeit“ bezeichnet. (Ingo Müller, Helmut Kramer zum Achtzigsten, verdikt 1.10, S. 23)

Kramer nennt sie in seinen Publikationen beim Namen und seine Laudatoren tun es auch: Verantwortliche für das Todesurteil gegen Erna Wazinski und viele weitere sowie die zum Stillschweigen verpflichteten Mitwisser und Schreibtischtäter der groß angelegten Ermordung Behinderter – das war der größte Teil der reichsdeutschen Justizprominenzdie ihre Karrieren im demokratischen Nachkriegsstaat nahtlos fortsetzen konnten und, manchmal hochgeehrt, immer wohl alimentiert, unbehelligt blieben, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Ihre gerichtliche Verfolgung – ausgelöst vom Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer und nach dessen plötzlichem Tod zunächst brachliegendwurde später von Helmut Kramer wieder aufgegriffen.

Das Schweigen der Rechtsgelehrten“

Nach Kramers Veröffentlichung über die Beteiligung aller 34 Generalstaatsanwälte des Reiches, 34 Oberlandesgerichtspräsidenten sowie zwei Oberreichsanwälten an der systematischen Ermordung Behinderter in „Kritische Justiz“ (1984) glaubte ein deutscher Botschafter in Budapest bewusste Verfälschungen und Unwahrheiten über seinen Vater, einst Berliner Generalstaatsanwalt, zu lesen. Er erstattete Disziplinaranzeige gegen Kramer. Der reagierte mit einer Verleumdungsklage gegen den Botschafter.

Das Verfahren wurde von der Justiz über sechs Jahre verschleppt, Akten verschwanden auf mysteriöse Weise, die Verdächtigten wurden gedeckt. Es endete schließlich mit einer Einstellung nach § 153 der Strafprozessordnung, die einzige Verfahrensbeendigung, gegen die es kein Rechtsmittel mehr gibt. Nur die beiden Hauptorganisatoren der beispiellosen Tötungsaktion waren im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt worden.

Unrecht im Gewand der Legalität

 Bei seinem Einsatz für die Einrichtung einer Gedenkstätte im Hinrichtungsgebäude in der JVA Wolfenbüttel – in dem auch das Urteil an Erna Wazinski vollstreckt worden war – ging es Kramer nicht allein um die Opfer. Er wollte auf die Gefahr hinweisen, die eine Befolgung von Rechtsnormen im Dienste gewissenloser Politiker für das Recht darstellt: Sie leiht dem Unrecht das Gewand der Legalität und lässt „ganz normale Menschen“ mit gutbürgerlicher Sozialisation und qualifizierter Juristenausbildung zu Mördern in der Robe werden.

Die Errichtung der Gedenkstätte wurde 1990 gegen den Widerstand des niedersächsischen Justizministeriums nach sechsjährigen Bemühungen Kramers und einiger „nicht geschichtsblinder RichterInnen“ realisiert. Er hatte dazu Veteranenverbände, u. a. auch aus Belgien und Frankreich mobilisiert, deren Kameraden als Widerstandskämpfer von den deutschen Besatzern nach dem sogenannten Nacht- und Nebelbefehl in Wolfenbüttel hingerichtet worden waren. Die Gedenkstätte ist für Kramer ein „Lernort zum Problem des Schreibtischtäters“, dessen Distanz zur Verwirklichung eines Todesurteils psychologisch entlastend wirken und die unmenschliche Entscheidung als „zwingend notwendig“ erscheinen lassen kann – wie im Fall Erna Wazinski, deren Fall für Kramer „ein Lehrstück“ (ist) für die Notwendigkeit einer verstärkt kritischen Begleitung der Justiz durch eine allerdings erst ihrerseits zu kritischem Rechtsdenken zu befähigenden Öffentlichkeit“. (Helmut Kramer, Gedenkstätte für die Opfer der nationalsozialistischen Justiz und Lernort gegen die Tat, in Gedenkstättenrundbrief Nr.100, 4/2001 S 54) Im selben Jahr wurde Kramer von der rot-grünen Regierungskoalition in Niedersachsen zum ehrenamtlichen Tagungsleiter der Deutschen Richterakademie ernannt. Bis dahin war in der Richterfortbildung das Thema NS-Justiz konsequent ausgeklammert und ab 1983 auf Drängen Kramers und einiger junger Mitstreiter aus der Justiz halbherzig angegangen worden, mit inkompetenten Referenten und das NS-Unrecht beschönigenden Vorträgen.

Unter Kramers Leitung waren diese Tagungen dann dank seines phänomenalen Gedächtnisses für alle Details aus dem Reichsjustizministerium oder den Biografien der NS-Juristen, aber auch wegen der entspannten Arbeitsatmosphäre und seiner glücklichen Hand bei der Referentenauswahl die erfolgreichsten der Akademie. Sie dienten Kursen an anderen Fortbildungsinstituten zum Vorbild.

Lex Kramer“ für das Rechtsberatungsgesetz

Mit dem Regierungswechsel in Niedersachsen 2003 kam es erneut zu einem Richtungswechsel in der Richterfortbildung. Und damit schließlich 2005 zu Kramers Absetzung „aus Altersgründen“. Dazu die Journalistin Tanja BusseWer Kramer kennt, seine Rede- und Denkgeschwindigkeit, sein überwältigendes Faktenwissen und …seine publizistischen und juristischen Aktivitäten, dem kann bei einem solchen Satz nur der Telefonhörer aus der Hand fallen.“ (Tanja Busse, „Das Schweigen der Rechtsgelehrten. Zensur an der Deutschen Richterakademie“, WDR 3 TagesZeichen, 05.09.2005, Sendemanuskript)

Die Anfälligkeit des herkömmlichen Juristentypus

Für die Absetzung Kramers als Tagungsleiter gab es vom zuständigen Justizministerium nur ausweichende Kommentare. Einen Vortrag über die Schwierigkeiten der Aufarbeitung brauner Justizvergangenheit im Rahmen der Richterfortbildung durfte Kramer nicht in  der Akademie halten, da „vom niedersächsischen Justizministerium, also der ausrichtenden Behörde, nicht geplant.“ Die Tagungsteilnehmer akzeptierten das Hausverbot ohne Protest und zogen mit Kramer in ein benachbartes Café, um seinen Vortrag zu hören. Das Thema dieser Akademietagung lautete: Die Unabhängigkeit der Richter und ihre Standfestigkeit.

Schon 1998 gründeten Kramer und eine Reihe von gleichgesinnten Juristen das Forum Justizgeschichte. Hier konnte kein Ministerium dreinreden. Das Forum macht in seinen Tagungen und öffentlichen Aktionen die Bedeutung der Vergangenheitsaufarbeitung für die Gegenwart deutlich und erinnert an die „Anfälligkeit des herkömmlichen Juristentypus gegenüber autoritären und rechtsstaatswidrigen Versuchungen“ (Kramer). Die inzwischen etwa 300 Mitglieder des Forums setzen sich zusammen mit Studenten und Referendaren für eine Juristenausbildung ein, die diese Anfälligkeit deutlich macht und Möglichkeiten aufzeigt, rechtzeitig gegenzusteuern.

Auch „Strafversetzung“ schreckte ihn nicht ab

Dass es „rechtsstaatswidrige Versuchungen“ immer noch bzw. schon wieder gibt, wenn auch bis vor kurzem imGeheimbereich der Hinterzimmer“ von Politik und Justiz, konnte Kramer nicht verborgen bleiben. Und so berichtet er über eine schleichende und klammheimliche Wiedereinrichtung einer eigenen Kriegsgerichtsbarkeit. Die Bombardierung zweier Tanklastzüge in Kundus, bei der mehr als 90 Menschen starben, habe der deutschen Öffentlichkeit gezeigt, dass Zivilisten als Kriegsopfer des Schutzes durch die Justiz bedürfen. Kramer berichtet, wie weit die – zum Teil verfassungswidrigen – Bemühungen der Bundesregierung um eine zentrale Zuständigkeit der Justiz für Bundeswehrstrafsachen bereits gediehen sind und wie damit die richterliche Unabhängigkeit in Frage gestellt ist. (Helmut Kramer, Kriegsjustiz durch die Hintertür, in Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/2010, S 5 ff). Und da Kramer Nägel mit Köpfen macht, hat er parallel dazu im Fall Kundus Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. Mit Beweisen, dass die Aufklärung durch die Bundeswehr behindert wurde.

Durch Selbstanzeige zum Sieg

Eine bis zum Jahr 2000 kaum beachtete und nicht bearbeitete, für Kramer jedoch ebenfalls bedeutende Altlast aus der Nazizeit war das Rechtsberatungsgesetz (Art.1, §§1,8 RBerG), ursprünglich als „Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz“ verabschiedet mit dem Ziel, den mit Berufsverbot belegten jüdischen oder regimekritischen Anwälten auch ihre letzten Arbeitsmöglichkeiten zu nehmen; es bestand nach 1945, von den rassistischen Passagen gereinigt, weiter und sollte Rechtssuchende vor Scharlatanen schützen – aber es bewahrte auch die etablierte Anwaltschaft vor unerwünschter Konkurrenz und „Gerichte vor engagierten Laien, denen in sozialen und politischen Arbeitsfeldern Rechtskenntnisse zugewachsen sind, die den Alltagsbetrieb von Justiz und Verwaltung stören“. (Horst Meier, Kritisches Tagebuch, WDR 3, 5.Juni 2000, Sendemanuskript).

Auch hier liefert der Fall Erna Wazinski den Anlass zum „Aufräumen“: Der Lebensgefährte der Mutter von Erna Wazinski hatte als Nichtjurist Eingaben an das Gericht für sie formuliert und war wegen unerlaubter Rechtsberatung zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

Kramer startet nun eine umfassende Selbstanzeige über zahlreiche unerlaubte Rechtsberatungen während seiner richterlichen Tätigkeit. Dies zu Protokoll im Rahmen eines Prozesses gegen zwei junge Totalverweigerer wegen unerlaubter Rechtsberatung für Gesinnungsgenossen. Ihre Verteidiger: Helmut Kramer und seine Frau, die Rechtsanwältin Barbara Kramer, beide vom Gericht als Rechtsbeistände zugelassen.

Nach einer Verurteilung wegen unerlaubter Rechtsberatung in zwei Instanzen (und damit aus juristischer Sicht am Ende des Rechtsweges) legt Kramer Verfassungsbeschwerde ein, „gerüstet mit umfänglichen Schriftsätzen, aus denen nicht bloß Rechtskenntnis, sondern auch reflektierte Empörung spricht“ (Horst Meier, a. a. O.).

2004 hebt das Bundesverfassungsgericht die Urteile gegen Kramer auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit verletzten. Die Sache endete 2005 mit einer ArtLex Kramer“: berufserfahrene Volljuristen dürfen ohne Erlaubnis nach dem Rechtsberatungsgesetz unentgeltlich rechtsberatend tätig werden. 2007 wird das Rechtsberatungsgesetz vom deutschen Bundestag ersetzt durch ein „Rechtsdienstleistungsgesetz“, das 2008 in Kraft tritt. Kramer ist bis heute nicht zufrieden mit diesem Ergebnis, denn es erlaubt die sogenannte altruistische Rechtsberatung nur Familienangehörigen, guten Freunden und Nachbarn. Karitative Einrichtungen, kleine im Sozialbereich tätige Vereine dürfen das nur unter Aufsicht von Volljuristen – was sich gerade die Organisationen, die für sozial Schwache arbeiten, in der Regel nicht leisten können. Kramer prangert dieses Verbot (das nur in Deutschland existiert) an, wann und wo er nur kann und entlarvt dabei die Schieflage der Gerechtigkeit des deutschen Justizsystems. Es „offenbart sich dadurch, wie es mit den Schwachen umgeht. Und wie mit den Starken.“ (Helmut Kramer, Rechtsstaat, in Gabriele Gillen/ Walter van Rossum (hg), Schwarzbuch Deutschland, Reinbek 2009, S.484)

Schieflage der Gerechtigkeit

Und darüber hat Kramer einiges zusammengetragen.Während der Sozialhilfeempfänger, der Ladendieb oder der Schwarzfahrer unnachsichtig bestraft werden, kann der Wirtschaftskriminelle (…) darauf vertrauen, mit Hilfe gut bezahlter Rechtsanwälte über das Freikaufverfahren entweder die Verfahrenseinstellung oder einen erheblichen Strafrabatt zu erreichen“. (Kramer in Gillen/ Rossum a. a. O. S. 478)

Der Bundesgerichtshof selbst hat die Erklärung dafür geliefert: Erfahrungsgemäßkommt es bei einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt (…) adäquate Bestrafung allein deswegen nicht erfolgen kann, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen“. (BGH 5 StR 119/05 u. 268/05 zum „Kölner Müllskandal“)

Dass auch hier nur etwas verbessert werden kann, wenn man damit in der Juristenausbildung beginnt, ist für Kramer selbstverständlicheine Juristenausbildung, die „seit mehr als einem Jahrhundert im Kern unveränderte, technokratische, auf Dressur ausgerichtete Ausbildung, bei der das unkritische Auswendiglernen von Lehrmeinungen im Vordergrund steht“. (Kramer, a. a. O, S. 486)

Gemeinsam gegen Krieg

Kramer, für den Krieg nie ein richtiger Weg sein konnte – wohin auch immer – kann nur auf der Seite der Pazifisten zu finden sein. Inspiriert und unterstützt von seiner Frau Barbara, deren Anwaltspraxis überregional bekannt ist für ihre fachkundige Verteidigung von Kriegsdienstverweigerern. Sie liefert ihm Stoff für sein pazifistisches Engagement, ist neben ihm bei Friedensdemonstrationen zu finden. Mit ihren rechtspolitischen Kenntnissen und den Erfahrungen aus ihren eigenen Zusammenstößen mit der Justiz ist sie ihm kompetente Gesprächspartnerin und Anwältin vor Gericht.

Barbara Kramer: Verteidigerin von Kriegsdienstverweigerern

Nichts anderes als Kriegsdienstverweigerer sind für Kramer alle, die sich Hitlers Kriegswahn verweigerten und als Kriegsverräter zum Tode verurteilt wurden (mehr als 30.000): Deserteure, aber auch Soldaten, die es unterließen oder Kameraden zu verraten, oder die von einer Widerstandsgruppe erfahren hatten. Als 1998 in der Aufhebung der Unrechtsurteile der Wehrmachtsjustiz durch den Bundestag die sogenannten Kriegsverräter ausgeklammert wurden, widerlegten zwei Militärhistoriker zusammen mit Helmut Kramer die Auffassung, dass es sich dabei um Spione und Agenten der Alliierten handelte. Gleichwohl musste Kramer noch die Fälschung eines von der CDU bestellten Sachverständigen aufdecken, bevor es – nach parteitaktischen Querelen unter dem Motto „bloß nicht gemeinsam mit der Linken“ – schließlich im September 2009 auch die so genannten Kriegsverräter rehabilitiert wurden.

1990 wird Kramer zusammen mit Heinrich Böll, Günter Grass, Walter Jens, Erhard Eppler und Dorothee Sölle sowie weiteren gewerkschaftlich organisierten Juristen wegen strafbarer Nötigung verurteilt: Sie hatten sich an den Protesten der Friedensbewegung beteiligt und im Januar 1987 mit einer Sitzblockade einen US-Militärzug bei Mutlangen zu einem kurzen Halt genötigt. „Während sich der Großteil der angeklagten Richter und Staatsanwälte mit gesinnungsethischer Wortkargheit verurteilen lassen wollte, entfaltete Helmut Kramer einen hoch differenzierten rechtshistorischen, rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Verteidigungsdiskurs“, ( Peter Derleder/Joachim Perels, Zwischen Weidenbusch und Donnersberg. Zum 70. Geburtstag von Helmut Kramer, in: Kritische Justiz 2000, S. 282), der zunächst zum Rückzug des ersten zuständigen Richters führte und schließlich zur Verfahrenseinstellung. Erst 18 Jahre später erklärte das BVerfG solche Verurteilungen für verfassungswidrig. Kramer hatte wieder einmal Rechtsgeschichte geschrieben. Er habe damals, sagt er, vor der Frage gestanden, ob er aus persönlicher Sorge von einer Beteiligung an dem Protest absehen sollte. Da habe für ihn der Gedanke den Ausschlag gegeben, dass die Ursache für das Versagen der Juristen in der Nazizeit ihre Anpassung gewesen sei, ihr ständiges Lavieren. Damit habe für ihn festgestanden: wenn ich mich da heraus halte, dann habe ich in den ganzen Jahren intensiver Beschäftigung mit der NS-Justiz nichts gelernt. (Ingo Müller, Helmut Kramer zum Achtzigsten, in: verdikt, Mitteilungen der Fachgruppe Richter und Staatsanwälte, 1/2010, S. 24).

Misserfolge, Karrierebrüche, Disziplinarverfahren und „Strafversetzung“ - das alles konnte Kramer nicht abschrecken, dem Unrecht auf der Spur zu bleiben. Aber er war nicht zuhause in einer Richterschaft, die so wenig bereit war, ihre Unabhängigkeit im Dienste der Gerechtigkeit zu nutzen, sondern angepasst den vorgezeichneten Karriereweg nahm.

Und so wurde die fünf Jahre dauernde Vertretungsprofessur im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen (1984 -1989) für Kramer eine Zeit der Anerkennung „ohne das versteckte Ressentiment, das ihm meist in der Justiz begegnet war“. (Derleder/Perels, a. a. O. S. 282)

Seine rechtshistorischen Vorlesungen zur Rekonstruktion der NS-Justizverbrechen waren, so Peter Derleder und Joachim Perels, eine besondere Attraktion. Ehemalige Studenten erinnern sich ebenso gern an das Zusammenwirken „von akribischem Detailwissen und übergreifender Gedankenentwicklung“ wie an seine „professorale Zerstreutheit“ (dies. a. a. O.).

Kramer ist jetzt 80. Und er hat noch viel zu tun. Buchbeiträge müssen abgeliefert, Projekte abgeschlossen und eine weitere Ehrung entgegen genommen werden: Am 9. Oktober 2010 wird ihm in Köln der Fritz-Bauer-Preis für seine Verdienste um ein humanes Rechtswesen in Vergangenheit und Gegenwart verliehen.

Seine Frau Barbara erinnert an die langsam weniger werdende Zeit, die noch bleibt, zum Beispiel für gemeinsame Reisen. Kramer hat zwar eigentlich nie Zeit, aber andererseits hat er noch viel Zeit. Gerade ist er gefühlte zehn Jahre jünger geworden: Nach Jahrzehnten endlich frei von regelmäßig wiederkehrenden mehrtägigen Migräneanfällen. Was hat ihn von dieser Folter, wie er es nennt, befreit? Akupunktur.Obwohl ich gar nicht daran glaube“, gesteht er. „Es war ein Versuch, und es hat tatsächlich geholfen“.

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Die Autorin:

Frauke Höbermann war von Beginn an Journalistin und baute nach dem Studium der Soziologie, Literatur und Theaterwissenschaft und Pädagogik den Studiengang Journalistik in Dortmund mit auf. Anschließend leitete sie bis 1999 das Bildungswerk des Deutschen Journalisten-Verbands. Seit 2000 ist sie freiberufliche Autorin und Journalistin.

Sie ist, zusammen mit Holger Weimann und Norbert Leppert, Autorin des StandardwerksGerichtsreporter. Praxis der Berichterstattung, Berlin 2005“, lebt in Hamburg und schreibt unter dem Pseudonym Frauke Turm regionsbezogene Krimis.

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