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KZ Schandelah-Wohlt

Ansprache in Schandelah-Wohlt 16.11.1982 anläßlich der Aufstellung des Holzkreuzes

Helmut Kramer 17.11.1982

Ansprache in Schandelah-Wohlt im November 1982 anläßlich der Aufstellung des Holzkreuzes

Liebe Freunde!

Es ist nun bald 38 Jahre her, seit das NS-Unrechtssystem zu Ende ging. Unter den Auswirkungen haben wir, ja die ganze Welt, noch heute zu leiden.

Wohl der schlimmste Notstand – ein Notstand, der viele weitere Fehlentwicklungen zur Folge gehabt hat – bestand in der Unfähigkeit unseres Volkes, das Geschehene voll zur Kenntnis zu nehmen, zu trauern und nach den Ursachen zu fragen.

Auch für diese Verdrängung gibt es Ursachenzusammenhänge: Um zu erklären, wie alles gekommen ist, hätten wir uns unser – jedes einzelnen – Versagen bewußt machen müssen. Eingeständnisse wären nötig gewesen: daß das Unrecht – mochte es auch „von oben“ angeordnet worden sein – zu seiner Durchsatzung vieler Helfershelfer benötigte und vor allem: daß es nicht möglich gewesen wäre ohne das Schweigen der vielen, die davon wußten.

Das Schweigen über das, was man vor der Haustür sah, wurde nach 1945 abgelöst von der Verdrängung dessen, was vor unserer Haustür geschehen ist. …(folgen Ausführungen über das Lager Schandelah-Wohlt als Teil der ungefähr 70 Außenlager von Neuengamme).

Diese Verdrängung bezog sich nicht nur auf den eigenen direkten oder indirekten Anteil an der Vergangenheit. Verdrängungsbedürfnisse zeigten sich auch im Hinblick auf Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft: wäre man den Ursachen nachgegangen, so wäre man um eine kritische Selbstbefragung des einzelnen und unserer Gesellschaft nicht herumgekommen. Hat der einzelne aus Angst (um Leben und Freiheit) geschwiegen? Oder war es bloß das Interesse um ein besseres Fortkommen oder war es sogar einfache Bequemlichkeit? Und welche Rolle haben Vorurteile gegenüber Andersdenkenden gespielt? Daß die damaligen Machthaber jeden Kommunisten oder sonstige politischen Gegner, jeden Juden, jeden Osteuropäer usw. als minderwertig und zu vernichtenden Feind betrachtet haben – das ist bekannt, was von dieser Feindschaft aber war im gesamten Volk oder bei den meisten Bürgern wirksam, wenn es um die Entscheidung ging, sich für gequälte, von Krankheit gezeichnete, dem Hungertod nahe ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter vor unserer Tür einzusetzen? Gerade eine Stätte wie das Konzentrationslager Schandelah gibt hier zu denken: ausländische Zwangsarbeiter stellten den größten Teil der Lagerinsassen. Damals, im „Dritten Reich“, glaubte man dringend darauf angewiesen zu sein, Ausländer – Männer, Frauen und kaum des Kindesalter entwachsene Jugendliche – zwangsweise hierher verschleppen zu müssen, um sie in unmenschlicher, ja mörderischer Weise auszubeuten. Heute in einer Zeit, in der wir wirklich auf ausländische Gastarbeiter angewiesen sind, gibt es in der Bundesrepublik von Ausländerhaß erfüllte Rufe, diejenigen um nahezu jeden Preis wieder zurückzuschicken, die wir selbst erst zu uns geholt haben.

Und bringen wir, wenn es um die Aufstellung noch modernerer, noch treffsicherer, mit noch kürzeren Vorwarnzeiten verbundenen Atomraketen in größter Nähe der Sowjetunion geht, genügend Verständnis für die Bedrohungsängste eines Volkes auf, das in diesem Jahrhundert kein einziges Mal den Westen angegriffen hat, das dafür aber zweimal von Deutschland überfallen worden ist und das als Folge des letzten Überfalls rund 20 Millionen Tote zu bedauern hat. Darunter waren etwa 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Sie hat man einfach verhungern und an Seuchen zugrunde gehen lassen, übrigens mit Billigung hoher Offiziere, von denen mehrere – zum Beispiel die Generäle Heusinger und Speidel – nach 1949 dazu ausersehen waren, die Bundeswehr wieder aufzubauen und an einer erneut gegen den Osten gerichteten Rüstungseskalation mitzuwirken.

Die Lebenslüge des „guten“ Bürgers: Mit politischer Enthaltsamkeit ist man immer auf der „richtigen“ Seite.

Noch einmal die Frage: Warum die Stärke der Verdrängung, die Abwehr einer Aufarbeitung? Nun, mit der Erkenntnis der Ursachen würden wir die Fehler der eigenen Person und die Strukturdefekte unserer Gesellschaft erkennen, darunter Karriere- und Obrigkeitsdenken, aber auch die Mentalität, sich aus der Politik, aus der Beschäftigung mit öffentlichen Fragen, möglichst herauszuhalten, also lieber das eigene Haus zu bestellen und sich nicht um die Not vor unserer Haustür zu kümmern. Wir müßten die Notwendigkeit sehen, uns und unsere Gesellschaft zu ändern – und das fällt uns wohl am schwersten.

Die Auswirkungen der Verdrängung waren folgenreich. Dazu gehört – wie Alexander Mitscherlich gesagt hat – eine Hemmung, ja Blockierung der sozialen Phantasie, Mangel an sozialer Gestaltungskraft, gesellschaftliche Unbeweglichkeit. Sind wir denn wirklich dazu verurteilt, die Fehler von gestern zu wiederholen? Im „Dritten Reich“ berauschten sich die Politiker an der Vorstellung eines „totalen Krieges“, also einer militärischen Auseinandersetzung, die alle einbeziehen und zur völligen Vernichtung des Gegners führen sollte. Wodurch unterscheidet sich eigentlich eine atomare Abschreckungstheorie, die Hunderte von Millionen mit qualvollem Tod bedroht, einem Leid, gegen das der vom Nationalsozialismus geführte Krieg noch verblaßt?

Ist in unserem politischen und gesellschaftlichen Leben – z.B. auch in unserem Erziehungssystem – nicht noch immer jener gewalttätige Erziehungs- und Kulturmechanismus im Betrieb, der schon damals auch gegenüber dem gröbsten Unrecht und gegenüber den schlimmsten Gefahren ein gutes Gewissen erzeugt hat?

In der Erinnerung ruhmreicher Vergangenheit und im Verdrängen nationaler Untaten waren wir schon immer stark. Man denke nur an die vielen Kriegerdenkmäler und an die Art, in der etwa am Volkstrauertag gewohnheitsmäßig der letzten Kriege gedacht, nicht aber über das geschehene Unrecht wirklich getrauert wird. Gedenkstätten für Widerstand und Verfolgung gibt es nur wenige, und sie führen ein Schattendasein. – Ich würde mich freuen, wenn das heutige Beisammensein uns dazu verhilft, zu einer vertieften trauernden Auseinandersetzung zu kommen, ohne uns verbittern zu lassen.