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Wasch mir den Pelz

Dr. Helmut Kramer

Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht nass –
zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.07.2004
zum Rechtsberatungsgesetz

Mit der Kammerentscheidung vom 29. Juli 2004 hat das Bundesverfassungsgericht die Verurteilung Helmut Kramers durch das Amtsgericht und das Oberlandesgericht Braunschweig wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz aufgehoben.

Es geht um folgenden Sachverhalt: Das Rechtsberatungsgesetz (RBerG) vom 13.12.1935 verbietet allen Bürgern, die nicht gerade Rechtsanwälte sind, nicht nur die kommerziellen, sondern auch die unentgeltlichen rechtlichen Beratungen anderer Bürger. Damit ist zugleich allen ratsuchenden Bürgern die Inanspruchnahme altruistischer Hilfe verwehrt.

Um dieses weltweit einzigartige Verbot der altruistischen Nachbarschaftshilfe zur Überprüfung zu stellen, hatte der Richter am OLG a. D. Helmut Kramer, Vorsitzender des Forum Justizgeschichte e. V., im Rahmen einer Verteidigung von mit einem Verfahren wegen Verstoß gegen das RBerG überzogenen Pazifisten Anzeige gegen sich selbst erstattet. Er hatte zu Protokoll gegeben, dass er u. a. kostenlos Pazifisten beraten und die Staatsanwaltschaft Braunschweig zur Aufhebung eines NS-Todesurteils aus dem Jahre 1944 veranlasst hatte. Seine Braunschweiger Kollegen verurteilten ihn in allen Instanzen zu Geldbußen von insgesamt 800,00 Euro. So musste sich auf die Verfassungsbeschwerde Kramers das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit dem Fall befassen.

Mit seiner Selbstanzeige ging es Kramer weniger um die eigene Person als um eine Überprüfung des Verbots der altruistischen Rechtsberatung überhaupt. Einer solchen Überprüfung ist das BVerfG ausgewichen, indem es seine Entscheidung darauf gestützt hat, dass die rechtliche Beratung durch einen Volljuristen und ehemaligen Richter nicht die sog. Schutzzwecke des Gesetzes gefährde.

 

Ein Kunstgriff zur Weichenstellung

Zum Verständnis der Begründungstaktik der drei beteiligten Richter muss man wissen: Um der durch die Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage aus dem Wege zu gehen und um anstelle des Senats entscheiden zu dürfen (§93 c I BVerfGG), muss die Grundsatzfrage bereits einmal im Senat entschieden worden sein. Hier bedient der Senat sich eines Kunstgriffs, nämlich einer bewussten Verwischung der Fragestellung. Die zur Entscheidung gestellte und von allen Beobachtern des Verfassungskonflikts auch so gesehenen Frage lautet: Ist das Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 GG) vereinbar? Kann der Schutzzweck des RBerG die Bürger vor den Gefahren unsachgemäßer Rechtsberatung zu bewahren – auch das Verbot der nicht-kommerziellen, uneigennützigen Rechtsberatung rechtfertigen? Die Beantwortung dieser Grundsatzfrage umgehen die drei Richter, indem sie die altruistische und kommerzielle Rechtsberatung in einen Topf werfen und pauschal, ohne Differenzierung zwischen den beiden Fallgestaltungen, munter behaupten: „In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass der Erlaubnisvorbehalt für die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten (...) verfassungsgemäß ist. Das RBerG dient dem Schutz des Rechtsuchenden sowie der geordneten Rechtspflege.“ Damit täuschen die drei Richter darüber hinweg, dass das Gericht sich bislang ausschließlich mit Fällen aus dem Bereich der kommerziellen Rechtsberatung befasst, aber noch nie zu dem Verbot der unentgeltlichen Beratung geäußert hat. Es handelt sich um grundverschiedene Fallgestaltungen, bei denen die nach der sog. Wechselwirkungslehre des BVerfG erforderliche Abwägung zwischen dem Interesse des Bürgers auf Ausübung des Grundrechts auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und auf Ausübung des Grundrechts auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 GG) mit angeblichen Gemeinwohlbelangen sehr unterschiedlich ausfallen kann.

 

Eine „lex Kramer“

Die Entscheidungshilfen, die die drei Karlsruher Richter den Untergerichten an die Hand geben, bestätigen in ihrer diffusen Orakelhaftigkeit die willkürliche Vorgehensweise der Kammer. Der Beschluss hat die Rechtsunsicherheit nicht behoben, sondern eher verstärkt.

Sieht man von der Zumutung ab, ein Gericht könne trotz Verwirklichung des Verbotstatbestandes nach Gutdünken freisprechen, wenn es, den Gesetzgeber korrigierend, im konkreten Fall ein Verbot für nicht „geeignet und notwendig“ hält, legt die Kammer trickreich dem Amtsgericht Braunschweig nahe, den Begriff der „Geschäftsmäßigkeit“ nach Art. 1 § 1 I RBerG so auszulegen, dass er „die unentgeltlichen Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen nicht erfasst“. Mit dieser Privilegierung von Volljuristen unternimmt das BVerfG den Versuch, einen gespaltenen Begriff „geschäftsmäßig“ zu entwickeln: einen gewissermaßen personenspezifischen Geschäftsmäßigkeitsbegriff. Nach der merkwürdigen Logik der drei Richter kann ausgerechnet ein Jurist mit beruflicher Erfahrung (man könnt auch sagen: mit Routine in der geschäftsmäßigen Bearbeitung von Rechtsfällen) schon begriffsnotwendig im Zweifel nicht geschäftsmäßig handeln; die Zuschreibung geschäftsmäßigen Vorgehens bleibt den gewöhnlichen Sterblichen vorbehalten. Diese Aufteilung der Bürger in zwei Klassen erinnert fatal an eine vom Bundesgerichtshof zum Begriff der „Gewalt“ vorgenommene Begriffsaufspaltung: Gewaltsam im Sinne des Nötigungsparagraphen (§240 StGB) handelt der Sitzdemonstrant, der psychischen Druck auf die vor den Demonstranten wartenden Kraftfahrer ausübt. Keine Gewaltanwendung im Sinne des § 177 StGB a. F. war es aber, wenn der Meister das 16jährigen Lehrmädchen stundenlang zur Nachtzeit mit verriegelter Beifahrertür in seinem LKW einsperrte, bis es ihm zu Willen war. Gern folgt man den drei Richtern zwar darin, dass angesichts der Möglichkeit mehrerer Deutungen einer Norm diejenige den Vorzug verdient, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht. Aber auch dann muss die gewählte Auslegung eines vom Gesetzgeber gewählten Begriffs für alle Bürger ohne Ansehen der Person gelten.

 

Ein Gesetz, das seine Unschuld erst nach 1945 verloren hat

Nichts anderes gilt auch über die beherzigenswerten Worte vom „Alterungsprozess“ von Gesetzen und davon, dass sich mit dem sozialen Wandel auch der Norminhalt ändern kann. Denn auch hier darf die Normanpassung nicht nur einigen wenigen Privilegierten zugute kommen.

Mit dem Alterungsprozess von Gesetzen, dem Rechnung zu tragen die Karlsruher Richter sich sonst oft so schwer tun, ist es hier auch sonst so eine Sache: War gerade dies Gesetz im Zeitpunkt seiner Entstehung (1935!) jugendfrisch und makellos? Und hätten die „gesellschaftlichen Anschauungen“, wie sie nach dem Ende der NS-Meinungsdiktatur endlich offen geäußert werden durften, aber von der Anwaltslobby weiterhin vernebelt wurden, dem Verbot des Altruismus nicht spätestens bereits 1945 ein Ende setzten müssen? Die Argumentation der drei Richter hinkt, bei Lichte besehen, an allen Ecken und Enden.

Der NS-Gesetzgeber als Kronzeuge

Anstelle der Bezugnahme auf angeblich erst in den letzten Jahren geänderte gesellschaftspolitische Anschauungen hätten sich die drei Richter besser auf die Gesetzesbegründung (Reichssteuerblatt 1935, Teil I, S. 1529) berufen können. Nicht einmal die Nationalsozialisten hatten das Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung mit der Gefährdung der Rechtsuchenden begründet, sondern allein mit der Gefahr von „Umgehungsversuchen“ und der Zweckmäßigkeit einer (unter der Herrschaft des Grundgesetzes unzulässigen) Verdachtsstrafe. Die nationalsozialistischen Juristen in der Erfindung nachträglicher Gesetzeszwecke zu übertrumpfen, war also den drei Karlsruher Richtern vorbehalten.

Um die Verfassungswidrigkeit des Verbots der altruistischen Rechtsberatung zu begründen, hätte auch sonst eine schlichte Bezugnahme auf die NS-Juristen genügt. Was sie einmütig – und ausnahmsweise zutreffend – in ihrem Dank an den „Führer“ rühmend zu dem Gesetz sagten, kann heute nur als klares Verdikt zur Untermauerung der Verfassungswidrigkeit zumindest des Verbots des Altruismus gelten. Sie bezeichnete das RBerG als ein „Gesetzgebungswerk, das im marxistisch-liberalistischem Parteienstaat eine völlige Unmöglichkeit gewesen wäre, das nur auf dem festen Boden nationalsozialistischer und berufsständischer Weltanschauung entstehen konnte.“ Für sie war „der Versuch der Änderung (des liberalen Grundsatzes der Gewerbe- und allgemeinen Handlungsfreiheit. Anm. H. K.) im parlamentarischen Zeitalter ein vergebliches Unterfangen“ (Zitate bei Kramer, Kritische Justiz 2000, S. 604).

Scheu, die Kontinuitätsfrage zu stellen

In dieser Weigerung, den diskreten Hinweis auf den „Alterungsprozess“ des Gesetzes zu konkretisieren, zeichnet sich die bemerkenswerte Enthaltsamkeit eines Gerichtes ab, das sich, wenn es sonst um grundsätzliche Beschränkungen von Freiheitsrechten ging, vehement vergangenheitspolitische Argumente ins Feld geführt hat. Man denke an das zu einem Verfassungssatz aufgewertete Prinzip der „Streitbaren“ oder „Wehrhaften“ Demokratie und die daraus abgeleitete Pflicht zur „Verfassungstreue“ nebst Rechtfertigung der sog. Berufsverbote (u. a. Radikalenbeschluss v. 22.05.1975, BVerfGE 39, 334).

Politische Rücksichtnahmen, wie man sie einem Verfassungsgericht angesichts umstrittener Gesetzgebungsvorhaben grundsätzlich zubilligen kann, können das strikte Schweigen des Gerichts zu der Gesetzesgeschichte nicht erklären; schon seit spätestens Frühjahr 2004 steht fest, dass der vom Bundesjustizministerium angekündigte Referentenentwurf das Verbot der altruistischen Rechtsberatung aufheben wird und das selbst die organisierte Anwaltschaft nicht mehr an dem Verbot festhält. Warum aber dann die auffällige Verdrängung der Entstehungsgeschichte des Gesetzes? Fragt man nach den ungeschriebenen Entscheidungsgründen des Beschlusses, kann man sich einer Frage nicht erwehren: Soll es nicht öffentlich werden, dass die deutsche Justiz einschließlich des BVerfG und sämtliche Rechtshistoriker einer Vorschrift eindeutig nationalsozialistischer Herkunft jahrzehntelang unkritisch gegenübergestanden haben? In ihrem offensichtlichen Bestreben, keinen schweren Schatten auf das historisch belastete Gesetz zu werfen, haben die drei Richter jedenfalls die letzte Chance der deutschen Justiz verpasst, sich von dem weltweit einzigartigen Verbot des Altruismus zu distanzieren.

Vielleicht ist das letzte Wort über das skandalöse Verbot aber noch nicht gesprochen. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg ist die gegen die Verurteilung wegen altruistischer Rechtsberatung gerichtete Beschwerde eines deutschen Bürgers anhängig. Dessen Verfassungsbeschwerde hatte das BVerfG (Zweiter Senat!) noch am 17. Mai 2002 ohne ein einziges Wort der Begründung mit einem Nichtannahmebeschluss abgeschmettert (Aktenzeichen des EuGHM: 40901/02).

12.09.04