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Erna Wazinski FR 22.08.90

Presse 1: Aufhebung des Todesurteils gegen Erna Wazinski auf Veranlassung von Helmut Kramer (Frankfurter Rundschau v. 22.8.1990)

Erna Wazinski und die "Panzertruppe" der Justiz

Ein Braunschwelger Richter will die Praxis der NS-Sondergerichte durchleuchten

 

Quelle: Frankfurter Rundschau v. 22.8.1990
Von Eckart Spoo (Hannover)

Ende November 1944 ließ die Staatsanwaltschaft in Braunschweig und in der Nachbarstadt Wolfenbüttel ein Plakat aushängen. Mit schwarzer Schrift auf rotem Grund wurde der Bevölkerung bekanntgemacht, daß Erna Wazinski am 23. November hingerichtet worden war, nachdem das Sondergericht Braunschweig sie "als Volksschädling zum Tode verurteilt" hatte. In den Akten der Justiz ist das Hinrichtungsprotokoll aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel erhalten geblieben. unterschrieben von Staatsanwalt Horst Magnus. Dort heißt es: "Die Vollstreckung dauerte vom Zeitpunkt der Vorführung bis zur vollendeten Verkündung 5 Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrichter bis zur vollendeten Vollstreckung 6 Sekunden."

Erna Wazinski, nicht vorbestraft, einziges Kind einer verwitweten, schwerkranken Frau, war gerade 19 Jahre alt, als sie Opfer der Nazi-Justiz wurde. In der Gerichtsverhandlung hinterließ sie "den Eindruck eines harmlosen, ordentlichen jungen Mädchens", wie sogar die Anklagebehörde in einem Schreiben an den Reichsjustizminister berichtete. Dieser Eindruck hinderte aber die drei Richter zwei Landgerichtsdirektoren und einen Landgerichtsrat - nicht, die Todesstrafe zu verhängen. Die Anklagebehörde empfahl dem Minister, ein Gnadengesuch der Verurteilten abzulehnen. Erna Wazinski sei nämlich "keine Persönlichkeit, die Nachsicht verdient". Der Erste Staatsanwalt Wilhelm Hirte begründete das unter anderem mit dem Hinweis, sie sei nach ihrer dritten Ausbombung in die Wohnung einer Freundin gezogen, deren Mutter wegen Abtreibung vorbestraft sei.

Was hatte Erna Wazinski verbrochen? Laut Urteil des Sondergerichts hatte sie in der Nacht zum Sonntag, dem 15. Oktober 1944, gearbeitet - Nachtschicht in einem Rüstungsbetrieb, in dem sie dienstverpflichtet war. Bei dem Bombenangriff in dieser Nacht war das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter zuletzt gewohnt hatte, bis auf den Grund abgebrannt. Die Mutter fand sie später in einer Auffangsammelstelle. Von ihrer Habe waren ihr nicht mehr als drei Kleidungsstücke geblieben. Am Tag darauf, nachdem sie bei der Freundin untergekommen war, half Erna Wazinski dem Sondergerichtsurteil zufolge Bewohnern eines ebenfalls abgebrannten Nachbarhauses beim Bergen von Gegenständen. Dabei soll sie dann einige Kleidungs- und billige Schmuckstücke an sich genommen haben, ohne zu wissen, wem diese Sachen im Gesamtwert von 200 Mark gehörten. "Wer derart eigennützig die schwerste Notlage seiner Volksgenossen ausnutzt, handelt so verwerflich und gemein, daß ihn die für Volksschädlinge dieser Art nach § 1 der Volksschädlingsverordnung vom 5. 9. 1939 ausschließlich vorgesehene Todesstrafe treffen muß", schrieben die Richter in ihre Urteilsbegründung.

Die bundesdeutsche Justiz zeigte später keine Hemmungen, solche Richter weiter zu beschäftigen. Der Vorsitzende des Braunschweiger Sondergerichts, Landgerichtsdirektor Walter Lerche, folgte allerdings nicht dem Ruf, an seine alte Wirkungsstätte zurückzukehren, nachdem ihn gleich nach Kriegsende die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in ihre Dienste aufgenommen und zum mächtigsten Beamten des Landeskirchenamts gemacht hatte. An solchen Nachkriegskarrieren lag es wohl, daß die Justiz - in Braunschweig und anderswo - bis heute keine Neigung zeigte, die Urteile der Sondergerichte für nichtig zu erklären und die Opfer zu rehabilitieren.

Helmut Kramer (Wolfenbüttel), Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, will jetzt diese üble Tradition durchbrechen und die "Mentalität des Verschleierns und Verdrängens" überwinden, die Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) 1988 anläßlich der Ausstellung "Justiz und Nationalsozialismus" als "die Fehlleistung der bundesdeutschen Justiz" beklagt hat Kramer beantragte bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Erna Wazinski einzuleiten. Wenn die Staatsanwaltschaft dem Antrag folgt, dann ergäbe sich die Gelegenheit, einmal exemplarisch die Praxis der. Sondergerichte zu durchleuchten.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nannte 1943 in einem Rundschreiben an alle Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte die Sondergerichte "Standgerichte der inneren Front". Das Reichsjustizministerium verstand sie als "das schnellste und schwerste Werkzeug, um Gangsternaturen blitzartig aus der Volksgemeinschaft für immer oder auf Zeit auszumerzen". Roland Freisler, Staatssekretär und später Präsident des Volksgerichtshofs, sprach von der Sondergerichtsbarkeit als der "Panzertruppe der Rechtspflege".

Nach der Darstellung, die Richter Kramer jetzt der Braunschweiger Staatsanwaltschaft gab, waren die Sondergerichte "keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinn, sondern Terrorinstrumente zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft". Die Rechte der Beschuldigten waren drastisch beschnitten. Die Aburteilung war "sofort", ohne Einhaltung von Fristen, möglich, wenn der Beschuldigte auf frischer Tat angetroffen worden war oder sonst "seine Schuld offen zutage" lag. Die Verteidigung durfte keine Beweisanträge stellen; den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte das Gericht nach eigenem Gutdünken. Gegen das Urteil konnte der Angeklagte keinerlei Rechtsmittel einlegen, es war sofort rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaften hingegen konnten durch "Nichtigkeitsbeschwerde" angeblich zu milde Urteile kassieren und Strafverschärfungen durchsetzen.

Das Prinzip des gesetzlichen Richters war abgeschafft; der Oberlandesgerichtspräsident benannte die Mitglieder des Sondergerichts. Im Verhältnis zwischen dem "Vorsitzenden des Gerichts und den beiden Beisitzern galt das Führerprinzip. Die Gerichtspräsidenten wirkten in "Vor- und Nachschauen" auf die Mitglieder des Sondergerichts ein (in der Verhandlung gegen Erna Wazinski. war der Braunschweiger" Landgerichtspräsident im Gerichtssaal anwesend und äußerte in einer Pause die Erwartung., daß das Verfahren wohl nicht anders als mit einem Todesurteil enden werde). Andererseits waren die vom Nazi-Regime geschaffenen neuen gesetzlichen Straftatbestände, die in die Zuständigkeit der Sondergerichte fielen, knapp und meist schwammig formuliert; sie gaben "den Richtern Freiheiten in einem Ausmaß, daß von irgendeiner richterlichen Gesetzesbindung nicht mehr gesprochen werden konnte", wie Kramer bei seinen Forschungen feststellte. Nach seiner Ansicht sind die Sondergerichte nicht anders zu bewerten als der Volksgerichtshof, dem der Bundestag in einer Entschließung vom 25. Januar 1985 die Qualität eines Gerichtes abgesprochen hat.

Zu dem Verdammungsurteil über den Volksgerichtshof, meint Kramer, habe man sich, wenngleich spät, noch am ehesten durchgerungen, weil es auf wenige Personen beschränkt blieb und weil auch meist nur vom Präsidenten Roland Freisler die Rede war, der dann wie Hitler "an allem schuld war" (und wie Hitler nicht mehr lebte). Viele Richter und Ankläger aus den Sondergerichten aber wurden nach 1945 wieder in der Justiz tätig, zum Teil an einflußreichen Stellen. Der Braunschweiger Erste Staatsanwalt Wilhelm Hirte .zum Beispiel war nach 1945 bis zu seiner Pensionierung Richter.

Im Fall Wazinski versuchte sich die Braunschweiger Justiz im Jahre 1952 zu entlasten, indem das Landgericht das Sondergerichtsurteil abänderte und anstelle der Todesstrafe neun Monate Haftstrafe wegen Diebstahls verhängte. Diese Art Vergangenheitsbewältigung empfindet Kramer als besonders peinlich: Die Verurteilte und Hingerichtete sei damit erneut schuldig gesprochen worden. Das Urteil lediglich veränderten Zeitumständen anzupassen, laufe darauf hinaus, das Opfer nochmals zu demütigen, diesmal mit rechtsstaatlicher Autorität. Kramer: "Eine vorbehaltlose Aufhebung der Unrechtsurteile ist der einzige Sühneakt, den die Justiz heute noch zu leisten vermag." Daß dies bisher abgelehnt wurde, kann er sich nur mit dem Interesse "der juristischen Täter daran, daß ihre Untaten nicht offenbar werden", erklären.

Bei der Entscheidung im Jahre 1952 untersuchte das Landgericht Braunschweig das Sondergerichtsurteil weder auf Irrtümer bei der Tatbebestandsfeststellung noch auf Rechtsfehler. Es vertraute einfach dem, was in den Akten stand. Dabei gab es allen Anlaß zu Mißtrauen.

Das Sondergericht hatte keinen einzigen Tatzeugen gehört Kramer aber sprach inzwischen mit einem Zeugen, dem heute 65jährigen Günter W. Nach dessen Angaben hat Erna Wazinski weder geplündert noch gestohlen. Vielmehr habe sie nach ihren eigenen Sachen und denen ihrer Mutter gesucht und sich dabei von ihm - einem Soldaten, der damals einige Tage Urlaub hatte - helfen lassen, berichtet W. Sonst sei niemand dabeigewesen.

Den Akten zufolge verschwieg Erna Wazinski im Verfahren den Namen des mit ihr befreundeten Soldaten. Als einziges Beweismittel diente dem Gericht ein Geständnis, das die Polizei wahrscheinlich mit unerlaubten Methoden erlangt hatte. Günter W. sah Erna Wazinski nach der Vernehmung; ihre Lippen waren geschwollen, ihre Nase blutete. Durch die Tür hatte er gehört, wie sie geschlagen worden war.

Das Sondergericht scheint sich für die Umstände wenig interessiert zu haben. Dazu hätte auch die Zeit gar nicht gereicht. Von der Festnahme bis zum Todesurteil vergingen weniger als 19 Stunden. In diesem Zeitraum von 17.30 Uhr am 20. Oktober bis 12.05 Uhr am 21. Oktober 1944 wurde die Beschuldigte von der Polizei vernommen, gingen die Akten von der Polizei an die Staatsanwaltschaft, verfertigte diese die Anklageschrift und leitete sie dem Sondergericht zu, wurde ein Verteidiger beigeordnet (der dann die Strafe "in das Ermessen des Gerichts" stellte), verhandelte und beriet das Gericht und verkündete das Urteil. Für die Hauptverhandlung war ungefähr eine Stunde angesetzt - einschließlich Vernehmung der Angeklagten zur Person, Verlesung der Anklageschrift, Plädoyers, Beratungspause und Urteilsverkündung. Eine eingehende Befragung der Angeklagten zur Sache kann da nicht stattgefunden haben.

Schon wegen eines solchen Verfahrensablaufes, argumentiert Kramer, muß das Urteil ersatzlos aufgehoben werden. Nach seiner Ansicht ist eindeutig der Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt. Die Richter, schlußfolgert er, "haben sich des Mordes oder Totschlags schuldig gemacht".

Und er stellt die Frage, ob die bundesdeutsche Justiz über die DDR-Justiz unter Ulbricht und Honecker moralisch richten könne, solange sie sich nicht vorbehaltlos von der Nazi-Justiz distanziert habe. Erna Wazinski war nur eine von mehr als 500 Frauen und Männern, die im Strafgefängnis Wolfenbüttel als Opfer der Willkürjustiz hingerichtet wurden. Eine im April dieses Jahres vom niedersächsischen Justizministerium herausgegebene Informationsschrift über diese Hinrichtungsstätte spricht unumwunden von "Jusitzmorden". und merkt an: "Bis zum heutigen Tag ist kein Richter der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes für dieses Jusitzverbrechen verurteilt worden. Justiz und historische Forschung haben nunmehr die Verpflichtung, dieses schreckliche Erbe aufzuarbeiten und zu dokumentieren."