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Sterbehilfe

Am 25. und 26.12.2018 erschienen im braunschweig-spiegel  die zwei nachfolgenden Artikel mit einem Vorspann des Herausgebers Dr. Uwe Meier zur Aushebelung eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zur Sterbehilfe durch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Die Original-Artikel finden Sie hier

 

 

 

Bundesminister Jens Spahn und sein bestellter Gutachter Udo Di Fabio

STERBEHILFE - was Bundesminister Jens Spahn und sein bestellter Gutachter Udo Di Fabio aus dem Problem machen.

Veröffentlicht im braunschweig-spiegel.de : Dienstag, 25. Dezember 2018 00:16

Geschrieben von Helmut Kramer und Uwe Meier

Ausgangspunkt des nachfolgenden Aufsatzes des Wolfenbütteler ehemaligen Richters am OLG Dr. Helmut Kramer, ist der inzwischen bundesweit bekannte Fall der Braunschweiger Tierpflegerin Bettina Koch. Sie ist nur eine der vielen von einem ähnlich schweren Schicksal betroffene Patienten.

Als Folge eines Unfalls war Bettina Koch querschnittgelähmt und bis zum Hals bewegungs- und sprachunfähig. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann: Bei vollem Bewusstsein wie ein lebender Leichnam zu liegen, bewegungsunfähig, ohne sich rühren oder sprechen, nicht einmal jammern und sich ausweinen zu können. Wer würde sich da nicht eine schmerzlose Medizin wünschen, um aus dem Leben zu scheiden?

Um ihren Entschluss umzusetzen, hat Bettina Koch bei dem hier zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit Hilfe ihres Ehemannes die Erlaubnis beantragt, fünfzehn Gramm des Präparats Natrium-Pentobarbital zu erwerben. Die Bundesbehörde verweigerte die Genehmigung. Als die Behörde auch ihren Widerspruch ablehnte, ließ die Todkranke, die eigentlich kaum noch transportfähig war, sich unter unsäglichen Schmerzen und Schwierigkeiten in die Schweiz bringen, wo sie sich mithilfe der Sterbehilfeorganisation Dignitas das Leben nahm.

Vorher ließ sie sich von ihrem Ehemann versprechen, ihren Fall weiter zu betreiben, im Interesse auch anderer Leidensgefährten. So hat der Grundsatzfall in einer 12-jährigen Prozessdauer, mit vielem Hin und Her die Gerichte beschäftigt, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und zum Bundesverwaltungsgericht. Beide Gerichte bejahten das Recht von unheilbar schwerkranken Menschen in „extremen Notlagen“ die todbringende Arznei zu erhalten.

Dennoch hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das BfArM angewiesen, Anträge auf Genehmigung des Erwerbs dieses Medikaments ausnahmslos zurückzuweisen. Um das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auszuhebeln und sich den Anschein einer gewissenhaften Prüfung zu geben, ließ das BfArM sich von einem Sachverständigen beraten. Aber von wem? Es war der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, Katholik und wegen seiner reaktionären Gesinnung bekannt. Und so sprach Di Fabio sich in dem bestellten Gutachten erwartungsgemäß gegen jede Leistung von Sterbehilfe aus, womit er im Ergebnis auch den inzwischen 115 weiteren Antragstellern die menschliche Autonomie und das Recht auf ein würdevolles Sterben absprach.

In dem Aufsatz von Helmut Kramer geht es also um das Leben und um den Tod.

Worum es in dem Aufsatz von Helmut Kramer geht, geht auch alle Bürger an. Immer wieder versuchen im Dienst der politischen Macht stehende Juristen, das Recht auf den Kopf zu stellen. Gerade deshalb sollten diese Fragen auch diejenigen nicht abschrecken, die sonst mit juristischen Problemen nicht viel am Hut haben. Denn das Recht gehört nicht den Juristen allein. Es geht alle Bürger an. Und deshalb ist die Justiz auf Anstöße von außen, gerade auch auf Kritik angewiesen. Es ist eine Aufgabe aller Bürger und der Medien, Juristen auf die Finger zu schauen und darüber nachzudenken, wie mit den Mitteln des Rechts Machtmissbrauch und Willkür verhindert und die Grundrechte geschützt werden können.

Wieder einmal gelingt es Helmut Kramer nicht nur die Sachverhalte äußerst kritisch und allgemeinverständlich zu beleuchten, sondern auch den Juristen, der rechtlich mit dem Fall befasst ist. Es handelt sich um den von der Politik bestellten Gutachter und ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio. Helmut Kramer hat Herrn Di Fabio in einem weiteren Aufsatz gewürdigt („Di Fabios ‚Kultur der Freiheit‘. Zur Geschichtsideologie und zum Hitlerbild eines Rechtskonservativen“), der morgen am 26.12.2018 hier veröffentlicht wird. Dadurch wird noch deutlicher, wes Geistes Kind derjenige ist, dem in diesem Instanzenzug die Letztentscheidung in Sachen Sterbehilfe anvertraut worden ist. (um)

 

 

Wenn Politiker sich einen Sachverständigen selbst aussuchen

Wenn Politiker sich einen Sachverständigen selbst aussuchen –

Udo Di Fabio und das Problem der Sterbehilfe


Von Dr. Helmut Kramer (25.12.2018)

Der längst auch bundesweit Aufsehen erregende Fall ist vielen Braunschweigern bekannt weil das Drama seinen Anfang in Braunschweig genommen hat. Der Fall der Tierpflegerin Bettina Koch, die als Folge eines Unfalls querschnittgelähmt bis zum Hals bewegungs- und sprachunfähig wurde. Die Geschichte, auch die juristische Problematik hat der langjährige Spiegel-Redakteur Rolf Lamprecht in seinem schon in Jahr 2008 erschienen Buch „Die Lebenslüge der Juristen“ einfühlsam und tatsachennah so auf den Punkt gebracht, wie es in einer abstrakten, die Probleme oft verschleiernden Juristensprache nicht so gelingen kann.

Die Bereitschaft, einem unerträglich leidenden Menschen die erbetene Hilfe bei der Lebens- und Leidensbeendigung zu leisten, gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, mit vielen sozialen, ethischen und religiösen Aspekten. Leider fehlt es an der nötigen Aufklärung der Bevölkerung, sowohl über die Chancen, aber auch der Grenzen der Palliativmedizin. Auch ist die Auseinandersetzung darüber durch eine mitunter hoch emotionale und religiös konnotierte Debatte belastet.

Aber wieder von vorn: Einen Arzt um Hilfe anzuflehen, ist schwerstkranken und sterbensmüden Patienten versagt. Dafür sorgt das durch reaktionäre ärztliche Standesorganisationen eingeengte ärztliche Standesrecht. Immerhin können der Arzt und sein Patient bei dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Genehmigung für den Erwerb eines letal wirkenden Medikaments (Natrium-Pentobarbital) beantragen. Zu allem Überfluss hat aber der Deutsche Bundestag im November 2016 in § 217 StGB rigoros jede „geschäftsmäßig“ betriebene Hilfe beim Sterben verboten. Wobei die Politiker sich bewusst die irrige Meinung zunutze gemacht haben, dass „geschäftsmäßig“ bedeute, aus einer anrüchigen Praxis „ein Geschäft“ zu machen. Tatsächlich ist mit diesem Rechtsbegriff aber gemeint, dass jemand nicht nur ein einziges Mal so handelt. Schon so setzt sich selbst ein Arzt einer Gefängnisstrafe aus.

Juristisch aktuell geworden ist das Problem der Leistung von Sterbehilfe dadurch, dass Bettina Koch, die nach der Ablehnung ihres Antrages durch das BfArM ihr absolut unerträgliches Leiden schließlich mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz selbst beendet hat, sich von ihrem Ehemann versprechen ließ, ihren Fall weiter zu betreiben. So hat der Grundsatzfall jahrelang die Gerichte beschäftigt: Vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dann erneut das BVerwG. Am Ende war der Fall wieder beim BfArM gelandet.

 

Wie das BfArM und der Gesundheitsminister Jens Spahn die Entscheidung des BVerwG ausgehebelt haben

 

Obgleich das BVerwG in seinem Urteil vom 02. März 2017 mit Bindungswirkung für alle Behörden klargestellt hat, dass der Staat, also auch das BfArM, Menschen in extremen Notlagen „bei einer schweren und unheilbaren Erkrankung den Zugang zu einer todbringenden Arznei nicht verwehren dürfe, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das BfArM angewiesen, Anträge auf Genehmigung des Erwerbs eines solchen Medikaments ausnahmslos zurückzuweisen. Um sich gleichwohl den Anschein einer sorgfältigen Prüfung der Zulässigkeit von Sterbehilfe zu geben, ließ das BfArM sich von einem Sachverständigen beraten. Aber von wem? Es war ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Di Fabio ist ein strammer Katholik und wegen seiner konservativen Meinungen bekannt. Im Jahr 2016 forderte er in einem für die CSU-geführte bayerische Staatsregierung erstatteten Gutachten, dass an den bayerischen Außengrenzen „wieder rechtlich geordnete Verhältnisse herzustellen“ seien. Bei der Auswahl eines solchen Sachverständigen konnte aus der Sicht der Lobbyisten von vornherein nichts schiefgehen. Und so sprach Di Fabio sich gegen jede Art von Sterbehilfe aus, womit er im Ergebnis auch den inzwischen 115 weiteren Antragstellern die menschliche Autonomie und das Recht auf ein würdevolles Sterben absprach. Das 102-seitige Gutachten ist abrufbar über die Internet-Seite des BfArM, und zwar die entsprechende Pressemitteilung vom 15.01.2018 unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/pm1-2018.html sowie das Gutachten dort als Download (pdf-Datei).

Vom „Kontext“ des Grundgesetzes und der Menschenwürde

Zur Begründung will Di Fabio aus dem „Kontext“ des Grundgesetzes und aus prinzipiellen Gründen der „Lebensachtung“ die Wohltat herausdestilliert haben, dass die „Würde des Menschen“ (Art. 1 GG) gebiete, auch unerträglich leidende Menschen qualvoll weiter leiden zu lassen. Dies auch dann, wenn der Patient nicht das Geld aufbringen kann, um mit Hilfe einer seriösen Sterbehilfeorganisation sein Leben in der Schweiz zu beenden. Nach Ansicht von Di Fabio müssen da auch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie das Sozialstaatsprinzip zurückstehen – zugunsten einer staatlichen Gewalt, die den Menschen selbst in existentiellen Fragen bevormunden darf.

Der im 17. Jahrhundert lebende französische Philosoph Descartes sprach davon, dass mit der Verschiebung durch einige Breitengrade sich auch die Rechtsregeln drastisch verändern können. Unerträglich Sterbenskranke brauchen sogar nur die Schweizer Grenze zu überqueren, um sich in der Schweiz das Leben zu nehmen. Entgegen der Polemik der Lebenserhalter nach der Art Di Fabios macht auch in der Schweiz niemand „ein Geschäft“ aus der Sterbehilfe. Dort halten sich die Zahlen in bescheidenen Grenzen. Mit einer präzisen Festlegung der Voraussetzungen für die Hilfe und einer strengen staatlichen Kontrolle der beiden Sterbehilfevereine (Exit und Dignitas) wird auch einem Missbrauch vorgebeugt. Auch von den sehr vielen Mitgliedern der beiden Vereine nimmt nur ein kleiner Teil diese Begleitung des Suizids in Anspruch.

Diskussionswürdig wäre die Meinung Di Fabios allenfalls, wenn er in seinem Gutachten einen Rest von menschlichem Mitgefühl für schwerst Leidende (denn nur solche Kranken haben bei dem BfArM einen Antrag gestellt) hätte durchschimmern lassen. Ihm geht es aber nur um ein abstraktes Prinzip, wie es in diesem Extrem nicht einmal von allen katholischen Theologen anerkannt wird.

Udo Di Fabio, der in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ die „Lebensfreude des bayerischen Katholizismus“ und die „christlichen Traditionen“ anpreist, hat mit seinem Verständnis von Menschenwürde wohl ganz bewusst vergessen, dass zu den seit jeher anerkannten christlichen Tugenden auch die Barmherzigkeit gehört. So schwer Leidende wie die Braunschweigerin Bettina Koch so entsetzlich weiter leiden zu lassen, ist unbarmherzig. Von den knapp zwei Zeilen seines Gutachtens, mit denen er das Leid der Bettina Koch beschreibt, wird man wie von einem Eiseshauch angeweht.

 

Sterbehilfe auf ausdrücklichen Wunsch nichts anderes als der "Euthanasie"-Massenmord der Nazis?

Inhaltlich problematisch griff Di Fabio sogar zu dem Nazi-Vorwurf: Die Erfüllung der ausdrücklich erklärten Bitte eines Bürgers, sich in einem Extremfall selbst das Leben nehmen zu dürfen, verglich er mit der mörderischen und heimtückischen "Euthanasie"-Aktion der Nationalsozialisten. Schlimmer kann man das „aus der Geschichte Lernen“ wohl nicht missbrauchen.

Der von den Gegnern jeder Art von Sterbehilfe befürchtete Dammbruch ist ohnehin nicht zu besorgen. Die beruhigende Gewissheit, im äußersten Fall selbst entscheiden zu dürfen, kann sogar dazu führen, dass man das Unumkehrbare immer wieder vor sich her schiebt. Das hat sich im USA-Bundesstaat Oregon gezeigt, wo in engen Grenzen die Hilfe beim Suizid erlaubt ist. Die Entziehung der Selbstbestimmtheit und die Verurteilung dazu, noch so unerträgliche, auch palliativ nicht zu lindernde Schmerzen hinnehmen zu müssen, macht den Schmerz noch unerträglicher.

Dabei geht es hier ausschließlich um den Fall der bis zum Hals gelähmten Braunschweigerin Bettina Koch und ähnliche zum Mit-Leiden auffordernde exzessive Ausnahmefälle, die vom BfArM endlich anerkannt werden müssten.

 

Bestelltes Gutachten – bestelltes Recht

Anstößig ist auch die formelle Art, in der das Bundesinstitut in einem abgekarteten Spiel von vornherein die Weichen für seine Entscheidung gestellt hat, um in dem politisch gewünschten Sinn entscheiden zu können: Ohne den Beteiligten, insbesondere Ulrich Koch, aber auch den inzwischen mehr als 100 ähnlich leidenden Antragstellern zur Frage der Bestellung eines Sachverständigen und die Wahl des von vornherein bis über die Ohren befangenen Di Fabios anzuhören (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG analog: Anspruch auf rechtliches Gehör), hat das BfArM mit dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in seinem Rücken Di Fabio beauftragt. Ein auf Bestellung geliefertes Gutachten ist aber nichts anderes als bestelltes Recht.

Bei allem Verständnis für die monetären Interessen an der Beauftragung als Sachverständiger (die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „ordentlichen Honorar“) hätte Udo Di Fabio selbst auf die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger dringen müssen (selbstverständlich gehören dem Deutschen Ethikrat, der für viele wichtige, aber oft weniger elementare Entscheidungen zuständig ist, immer mehrere Experten an). Stattdessen hat er als begehrter und lukrativ dotierter Vortragsredner das ihm als ehemaliger Bundesverfassungsrichter zugewachsene Renommee ausgenutzt, um politischen Interessen zur Durchsetzung zu verhelfen.

Woran liegt es, dass sich sonst noch niemand kritisch mit dem auf Bestellung gelieferten Gutachten Di Fabios beschäftigt hat? Das kann nur jemand mit guten Kenntnissen der juristischen Begründungsmethode. Das macht Arbeit. Wie Juristen und Politiker den Bürgern Sand in die Augen streuen und wie schwierig es ist, juristische Texte zu hinterfragen, hat schon vor zweieinhalb Jahrhunderten ein kritischer auch als Dichter bekannter Jurist unüberbietbar beschrieben. In seinem Schauspiel „Faust“ lässt Johann Wolfgang von Goethe den von dem Wortgeklingel Mephistos verwirrten Famulus Wagner klagen: „Mir wird von alle dem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum“. Diese Ungleichheit zwischen Bürgern und Juristen haben sich die Juristen zu allen Zeiten zunutze gemacht.

Ebenso wie bei Richtern muss auch ein mit schwierigen ethischen und Gewissensfragen beschäftigter Sachverständige über die rechtstechnische Qualifikation hinaus und über jeden Zweifel an seiner geistig-moralischen Lauterkeit erhaben sein. Darüber, wes Geistes Kind Udo Di Fabio ist, hat er in selbstverräterischer Offenheit in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ Auskunft gegeben. Deshalb mein Aufsatz „Di Fabios ‚Kultur der Freiheit‘. Zur Geschichtsideologie und zum Hitlerbild eines Rechtskonservativen“. Dieser Aufsatz wird ab 26. Dezember 2018 bei Braunschweig-Spiegel.de abrufbar sein.

Di Fabios „Kultur der Freiheit“

Di Fabios „Kultur der Freiheit“

Zur Geschichtsideologie und zum Hitlerbild eines Rechtskonservativen



Von Dr. Helmut Kramer (26.12.2018)

Veröffentlicht im braunschweig-spiegel.de am 26.12.2018

Bei jedem, den eine mit besonderer Verantwortung beladene Aufgabe mit hoher Tragweite – hier: im Ergebnis die Letztentscheidung in einem übrigens schon vom BVerwG und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klar entschiedenen Rechtsstreit – anvertraut wird, kommt es neben der fachlichen Expertise darauf an, ob er über die angemessene geistig-moralische und philosophische Weisheit verfügt. Auch muss er über jeden Zweifel an seiner Lauterkeit, vor allem aber an seiner Unparteilichkeit erhaben sein. Anlass zu solchen Zweifeln und zur Beantwortung der Frage, wes Geistes Kind der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, der vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukten (BfArM) mit einem Gutachten zur Zulässigkeit einer Sterbehilfe beauftragt worden ist, geben seine Gedanken, die er in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ (Verlag C. H. Beck, München 2005) ausgebreitet hat.

Das 295-seitige Buch ist ein Konglomerat irrlichternder Gedanken, von dem sich jeder flüchtige Leser gern eine Scheibe abschneiden darf. Immerhin legt Di Fabio dann doch sein Ressentiment u. a. gegenüber dem „Sozialstaat“ offen. Immer wieder wendet er sich vehement gegen jede „sozialtechnische Regulierung“ und gegen eine „sozialtechnisch zugerichtete neue Welt“, als dämmerte der Sozialismus schon am Horizont.

Geradezu „bösartig und „destruktiv“ sei eine Kritik, die behauptet, unsere gesamte kapitalistische Gesellschaft sei ein einziger Verblendungszusammenhang, in dem Auschwitz keine moralische Entgleisung, sondern im System angelegt sei.

Wo der „gute Deutsche“ lebt

Der in das Kleid eines Kulturwissenschaftlers geschlüpfte Udo Di Fabio weiß auch, was ein guter Deutscher ist: Er trifft „Vorsorge für ausreichende Nachkommenschaft und lebt in einer „identitätsstiftenden Gemeinschaft“ (natürlich in Bayern), die aus spezifisch “jüdisch-christlichen Wurzeln“ erwachsen sei (und in der der Islam wohl wenig Platz haben darf?). Hier lassen die den Rechtsextremisten nahestehenden „Identitären“ grüßen.

Der verkleidete Deutsche

Als selbsternannter rechtshistorischer Experte traut Di Fabio sich auch ein Urteil über die nationalsozialistische Diktatur zu. Danach war Hitler gar kein Deutscher. „Er war nur ein verkleideter Deutscher“, wie auch der gesamte Nationalsozialismus etwas Undeutsches gewesen ist. Vielleicht nicht mehr als der von dem AFD-Politiker Alexander Gauland benannte „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Die Deutschen waren „von dem Dämon mit allen Mitteln der Propaganda verführt und belogen“ worden, belogen wie „eine zu verführende Frau“ (Männer lassen sich wohl nie verführen?). So suggeriert Di Fabio, der die Fotos mit den Tausenden Hitler zujubelnde Menschen wohl nie gesehen hat, dass der mit den Massenverbrechen unter der Mitwirkung zehntausender Deutscher vollzogene Zivilisationsbruch den Deutschen wesensfremd sei. Damit reduziert Di Fabio nach den Worten des Kulturwissenschaftlers Micha Brumlik die millionenfache, arbeitsteilig begangene Mittäterschaft bei der Ermordung von u. a. sechs Millionen Juden und an die 27 Millionen Sowjetbürger auf einen läppischen, durch Verführung motivierten moralischen Verbotsirrtum. Mit seiner Geschichtsklitterung folgt Di Fabio jenen Meinungsführern, denen es in den 1950er und 1960er Jahren gelungen ist, die Täter aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein und aus den Gerichtssälen verschwinden zu lassen (vgl. dazu das Buch von Hannes Heer: Hitler war’s) und die Deutschen sich nur als Opfer fühlen wollten.

Die Lebensfreude des bayerischen Katholizismus

Nach Di Fabio war Hitler schon deshalb kein Deutscher, weil er „kein Jota“ vom Anstand des preußischen Staatsdieners (hatte), weder Heimatgefühl noch die Lebensfreude des bayerischen Katholizismus, keinerlei Sinn für deutsche Lebensart, bürgerliche Vorlieben und christliche Traditionen. Mit dieser Sichtweise war das Ergebnis des Sachverständigengutachtens Di Fabios zur Sterbehilfe schon im Ansatz vorgezeichnet. Mit der „Lebensfreude des bayerischen Katholizismus“ (Die Kultur der Freiheit, S. 207) lässt sich der Sterbewunsch einer an einer unheilbaren und unerträglich qualvollen Krankheit leidenden Patientin in der Tat schwerlich vereinbaren.

In der Nachkriegsgeschichte verortet Di Fabio die 1950er Jahre in den „goldenen Jahren“ von „Adenauers Rheinischer Republik“, jene Dekade der „Lebenslust“ und Energie (ebenda, S. 213, 215). Damals habe sich Deutschland „auf das Beste entfaltet“. Dagegen hätten die die so genannte Studentenrevolte der Sechziger und „die neue Generation der Reformer zu Beginn der siebziger Jahre“ die letzten Reste von „Autoritätsfixiertheit“, damit auch „Ordnungsgeist und Pflichtethik“ angegriffen.

Wie ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter

die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur verharmlost

Personelle Kontinuitäten und ihre Auswirkungen hat es wohl nie gegeben

So abundant vieles in Di Fabios „Kultur der Freiheit“ auch ist: Kein Wort verliert er über die jahrzehntelang verweigerte Auseinandersetzung mit den unter Beteiligung so vieler Schreibtischtäter verübten Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur. Kein Wort auch zu der systematisch betriebenen Straflosigkeit der Täter, auch der an den Verbrechen beteiligten Juristen mit der Fortsetzung ihrer Karrieren bis in die Ränge des Bundesgerichtshofs, gelegentlich des Bundesverfassungsgerichts (u. a. Willi Geiger). Kein Wort auch dazu, dass in den 1940er und 1950er Jahren viele Kommunisten vor fast denselben Richtern standen, die sie schon in der NS-Zeit verurteilt und ins KZ gebracht hatten. Unerwähnt lässt Di Fabio auch den oft demütigenden Umgang mit den Wiedergutmachungsansprüchen überlebender jüdischer Opfer und ihrer Hinterbliebenen.

Von einem Dämon, der alle Energien des Volkes aufsog

Schon einmal auf systematische Verharmlosung fixiert, sieht Di Fabio in bilderreicher Sprache die Deutschen „im Griff“ eines „Dämons“, der wie ein Vampir „alle Energien des Volkes und dessen kulturelles Vermögen aufsog“ (ebenda; S. 202, 207).

Was der der Ideologie der Identitären Gemeinde nahestehende Di Fabio fatal verkennt: „Es gibt eine befreiende Erinnerung, die wir mit den Opfern teilen. Deshalb entsteht Identität auch nicht durch Leugnen, Ignorieren oder Vergessen, sondern braucht ein Erinnern, das Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung ermöglicht und einen Wandel der Werte und des nationalen Selbstbildes stützt.“ (Aleida und Jan Assmann, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2018 in der Frankfurter Paulskirche.)

Von diesem Wandel der Werte will ein Udo Di Fabio absolut nichts wissen. Er verharrt in der Ära Adenauers der 1950er Jahre.