Ein Torbogen, der Geschichte erzählt
Ich bin in Helmstedt aufgewachsen. Mein Vater war ebenso wie meine bis ins Ende des 16. Jahrhunderts nachweisbaren Vorfahren, Bauer, Landwirt. Im Zuge des Bauernsterbens, meist wohl infolge von Erbteilungen war der Hof nach und nach durch Zukauf gewachsen. An die Stelle des ursprünglichen Bauernhauses, seit 1637 im Besitz meiner Vorfahren trat das Gutshaus der Familie Haenichen, in die ein Kramer eingeheiratet hat, das im Jahr 1797 fertiggestellte heutige Gutshaus an der Ecke Stobenstraße 18 / Langer Steinweg.
An das Gutshaus schließt sich, zum Hof gehörend, auf einer Länge von 100 Metern, eine Reihe von mehr oder weniger breiten Fachwerkgebäuden, nach dem Verwendungszweck sogenannte Speicherhäuser, an. Sie sind reich verziert, mit Schnitzwerk, teils farblich hervorgehoben. Sie alle hatten Toreinfahrten, die inzwischen, schon vor Jahrhunderten, weil nicht mehr benötigt, nach und nach mit Fachwerk ausgefüllt wurden.
Eine der ursprünglichen Toreinfahrten hat einen Torbogen, mit der in das Holz geschnittenen Inschrift:
„Weil mir die Welt zuwidr ist,
steh mir bei Herr Jesu Christ
ANNO MDC.XVII“ (also 1617)
Eine solche leidbeladene Preisgabe innerer Befindlichkeit an einer Hauswand weicht von den damals üblicherweise verwendeten Inschriften auffällig ab (z.B. von der einfach gehaltenen Inschrift auf einem der benachbarten Torbogen: „Vergiss mein nicht, Herr Jesu Christ“).
Gibt es ähnliche Inschriften mit individuellen Aussagen aus jener Zeit? Vielleicht können mir mit Hausinschriften vertraute Heimatkundler weiter helfen.
Die Außergewöhnlichkeit der schwermütigen Aussage ist jedenfalls mindestens einem nachdenklichen Passanten anlässlich eines zweitägigen Aufenthalts in Helmstedt aufgefallen: Der Literaturkennern wohlbekannte Jochen Klepper hatte sich im Jahre 1935 zu einem Romanvorhaben entschlossen. Im Mittelpunkt sollte Martin Luthers Frau, Katharina von Bora stehen. In den Wirren der Reformationszeit kam sie nach ihrer gefahrvollen Flucht aus dem Zisterzienserinnenkloster Marienthron auch nach Helmstedt. Um Studien zu seinem Vorhaben anzustellen, war Jochen Klepper über Magdeburg am 3. September 1937 auch nach Helmstedt gekommen (am 4. September fuhr er weiter nach Braunschweig und Gifhorn, später nach Wittenberg).
In einem für den Roman vorgesehenen Text „Die bunte Stadt im Schatten“ berichtet er mit bewegten Worten über Helmstedt:
„… Zwei Worte von lastender Schwermut beschatten die Stadt, die vielleicht die bunteste und merkwürdigste des deutschen Nordens und Nordwestens ist. Das eine ist gemeißelt und gemalt in das Gebälk eines einst wohl reichen Hauses dieser Stadt:
‚Weil mir die Welt zuwider ist,
steh mir bei, Herr Jesu Christ‘.
Das andere steht eingeritzt in das Spruchband im Steinboden einer Kirche: ‚Was ist, ach, das größte Verderben? Allein der andere Mensch‘.“
In der näheren Beschreibung des zweitägigen Rundganges durch Helmstedt, kommt Jochen Klepper wieder auf das Haus am Langen Steinweg zurück:
Ein Haus aber, näher schon dem Wall, am Langen Steinweg, ist reicher an Fenstern und kostbarer Arbeit des Gebälks denn alle – es sei denn an des Herzogs Julius Hoflager gedacht – das wie ein einziges Holzrelief ist. Herrlich bunt sind alle Leisten. Läden, Flächen, Simse, Stabfassungen, die Fensterbögen und die Rundungen der beiden mächtigen Türen an dem Haus im Langen Steinweg. Aber seine Läden sind geschlossen; Balken sind vor die Tore dieses vielleicht reichsten Hauses einer armen Stadt gelegt, das heute noch den Namen seiner Besitzerin, ganz gewiß einer Herrin, in seine Balken eingeschnitzt trägt: Margarete Friderich. Und der Totenernst, der über diese bunte, wirre Stadt gelagert ist, spricht am erschütterndsten aus den Lettern, die jene Unbekannte ihrem vielleicht geneideten, vom Glück wahrscheinlich nie durchwärmten Hause einmeißeln ließ: "Weil mir die Welt zuwider ist, Steh mir bei, Herr Jesu Christ."
Mit großem Leid beladen ist auch die Geschichte von Jochen Klepper und seiner Familie selbst. Als Journalist beim Berliner Rundfunk wurde er 1933 wegen seiner SPD-Mitgliedschaft entlassen. Ebenso trennte sich die Deutsche Verlagsanstalt, bei der er einen Roman veröffentlicht hatte, von ihm. Immerhin konnte er im Februar 1934 seine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer erreichen. Da seine Frau Johanna und ihre aus erster Ehe eingebrachten beiden Töchter Jüdinnen waren, geriet die Familie zunehmend unter Druck. Brigitte, der älteren der beiden Stieftöchter, gelang kurz vor Kriegsausbruch noch die Ausreise nach Schweden. Auch musste Klepper nach einer ihm vom Reichsinnenminister Wilhelm Frick erteilten Auskunft davon ausgehen, dass Mischehen zwangsweise geschieden werden würden und damit auch seiner Frau die Deportation drohte. Das Ende aller Hoffnung kam, als Klepper am 10. Dezember 1942 von dem Judenreferenten des Reichssicherheitshauptamtes SS-Obersturmführer Adolf Eichmann persönlich erfuhr, das die jüngere Stieftochter Renate nicht ausreisen dürfe (im Ergebnis: alsbald deportiert werden würde). In der Konsequenz nahm die Familie sich in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 durch Schlaftabletten und Gas einsam das Leben.
Dass Jochen Klepper sich in den Monaten vor seinem Lebensende noch eine kleine Hoffnung auf Verschonung seiner Frau Hanni und seiner Stieftochter Renate machen konnte (dass es sogar zu Audienzen bei dem Reichsinnenminister Wilhelm Frick und bei Adolf Eichmann kam) erklärt sich u.a. aus der Wertschätzung des Reichsinnenmisters Wilhelm Frick für den Roman Kleppers „Der Vater“, (Vater von Friedrich dem Großen). Doch hatte Frick inzwischen, gerade in dem dramatischen Monat Oktober 1942 seine Macht an die SS verloren. Näheres dazu bei Markus Baum, Jochen Klepper, Berlin 2011, S. 246 ff und die Tagebücher von Jochen Klepper, Unter dem Schatten meiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 bis 1942, insbesondere Eintrag vom 10.12.1942.
Jochen Klepper, den der nationalsozialistische Terror zum Schluss jeder Hoffnung beraubt hatte, gab allen Christen Zuversicht mit seinem Lied „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“ (es steht u.a. im Evangelischen Gesangbuch, auch im „Gotteslob“, dem meistbenutzten katholischen Kirchenliedbuch).
Wegen des Helmstedt-Besuchs Kleppers und der Ereignisse in den letzten Tagen Kleppers beziehe ich mich auf den Aufsatz von Dietmar Storch, Zeitschrift für Heimat und Kultur, 92. Jg. 1992, S. 269 ff. Dort (S. 272 f) ist auch der Bericht Kleppers über seine Eindrücke in Helmstedt am 3./4. September 1937 abgedruckt. Diesen Text wollte Klepper an das Ende seines Romans über Katharina von Bora setzen.
Helmut Kramer im Dezember 2017