Türkei
Beobachtungen Helmut Kramers in türkischen Kriegsgerichtssälen
Ein schlimmes déjà vu
Die Beobachtungen Helmut Kramers in türkischen Kriegsgerichtssälen im Jahr 1983 im Vergleich mit den heutigen Geschehnissen.
Braunschweig, August 2016
Als wir – sechs Rechtsanwälte und ich als Richter – im Jahre 1983 von einer Prozessbeobachtungsreise nach Deutschland zurückkehrten und wir dann gemeinsam mit anderen menschenrechtlich engagierten Juristen darüber ein Buch („Politische Prozesse in der Türkei") veröffentlichten, konnte ich nicht ahnen, dass sich in der Türkei nun, 33 Jahre danach ähnliche Dinge wiederholen würden, wie sie uns zu jener Reise in die Türkei veranlasst hatten.
Zusammengefunden hatten wir uns angesichts der sich häufenden Berichte über die Folgen des türkischen Militärputsches am 12. September 1980, mit der Aufhebung fast aller Grundrechte und politischen Freiheiten und mit rigoroser Verfolgung aller Kritiker.
In der Zeit vom 27. März bis 05. April 1983 hatten wir bedrückende Beobachtungen der Prozesse gegen die Kurden und andere Oppositionelle gemacht. Bei der anschließenden Analyse half uns nicht nur die Kenntnis der völker- und menschenrechtlichen Normen, sondern auch der politischen Praxis, mit der bei uns, in Deutschland, in den Jahren 1933 bis 1945 die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Bei unserer Reise durch die Türkei konnten wir uns als Bürger des Nato-Partners Bundesrepublik selbst zwar sicher fühlen. Aber gleich nach der Ankunft in Istanbul erhielten wir eine erste Anschauung. In den Hotels, in denen wir wohnten, wurden wir unauffällig-auffällig von immer in dem gleichen Zivil gekleideten Geheimdienstleuten beobachtet, auch in Diyarbakir und anderen Städten, später auch in Ankara.
Natürlich konnten wir den politischen Gefangenen mit unserer Anwesenheit in den Prozessen nicht helfen. Dennoch muss immer wieder an Ort und Stelle an die unverbrüchlichen Regeln eines jedes Rechtsstaats erinnert werden. Die türkischen Politiker und die nach den jetzigen „Säuberungen“ im Amt belassenen Richter müssen wissen, dass sie unter kritischer Beobachtung deutscher Juristen stehen. Ob sich allerdings heute noch einmal deutsche Richter und andere kritische Juristen zusammenfinden würden, um die Augen an Ort und Stelle offen zu halten?
Parallelen zur NS-Justiz
In unserem Buch über unsere Beobachtungen in der Türkei habe ich aus gutem Grund das damalige türkische Justizsystem auch mit den Strukturen der NS-Justiz verglichen. Die NS-Justiz war nicht minder brutal als die türkische Justiz der 1980er Jahre. Es gab aber einen Unterschied: Damals waren bei der Gleichschaltung der Justiz das System der Türkei und die Strukturen in der Justiz in einem Punkt nicht deckungsgleich: Hitler und seine Gefolgsleute versuchten, den äußeren Schein der richterlichen Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten: Im „Dritten Reich“ sollten die Juristen nicht gleich als Marionetten der Machthaber dastehen. Bei der damaligen Richtermentalität reichten unauffällige Druckmittel, um die Richter auf Linie zu bringen. Nach dem Militärputsch von 1980 und wohl auch jetzt wieder ist die türkische Justiz völlig der Exekutive unterstellt worden.
Die Zeithistoriker haben die Geschehnisse in der Türkei von 1980 ziemlich gleichgültig gelassen. Ich befürchte, dass es auch diesmal, 2016, nicht viel anders sein wird. Dabei ist kein Zweifel, dass die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei nach dem Militärputsch von 1980 vor allem von der 1968er-Bewegung ausgegangen ist. Darunter waren auch die progressiven Juristen. Es war das Erschrecken über die Beteiligung unserer Vorgänger – fast alle ganz normale Richter und andere Juristen – an den Verbrechen des Dritten Reiches, die die Generation der „68er“ zu ihrem gesellschaftspolitischem Engagement gebracht hatte. Deshalb gehörten alle Mitglieder unserer Türkei-Reise dieser Generation an, der auch ich mich gesinnungsmäßig zugehörig fühle.
Meine Mitverantwortung
Nicht erst am Ende meiner aktiven Richtertätigkeit habe ich mich oft nach möglichen Irrtümern und zu den Folgen meiner Entscheidungen gefragt. Zu den vielleicht drei Fällen, die mir noch immer nachgehen, gehört die Beteiligung an der Auslieferung eines Türken.
Das war im Jahr 1991. Damals hatte der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig über einen Flüchtling aus der Türkei zu entscheiden. Es ging um die Auslieferung eines türkischen Flüchtlings. Die Bundesregierung hatte über die Auslieferung längst entschieden und hatte die Auslieferungshaft angeordnet. Als sogenannter Berichterstatter des Senats war ich schwerpunktmäßig mit der Beratung über die Fortdauer der Auslieferungshaft befasst. Beim ersten und zweiten Lesen der Akte schien mir klar zu sein, eine Auslieferung an die Türkei komme auf keinen Fall in Frage. Zu meinem Erschrecken musste ich aber trotz tagelangen Nachdenkens schließlich feststellen, dass es kein Hindernis gab. Nach Artikel 12 des Europäischen Auslieferungsübereinkommen (EAU) vom 13. Dezember 1957 muss zwingend ausgeliefert werden, wenn gegen den Betroffenen ein von einem türkischen Gericht erlassener auf Beweismaterial gestützter Haftbefehl vorliegt, wonach er dringend einer Straftat verdächtig sei. Zweifel an der Echtheit der von der Türkei vorgelegten Beweismittel sind den deutschen Gerichten nicht erlaubt (!). Dies selbst dann, wenn einige Umstände dafür sprechen, dass die türkischen Behörden die Beschuldigung vielleicht zum Vorwand nehmen, um einen politisch Missliebigen in ihre Gewalt zu bringen, gar zu foltern. Jetzt wird natürlich jeder an das deutsche Asylrecht denken. Wer aber weiß, dass das Völkerrecht und damit auch das Europäische Auslieferungsabkommen als sogenannte lex spezialis gegenüber dem Asylrecht vorrangig ist?
Folter kein Auslieferungshindernis?
Hinter dieser gesetzlichen Regelung – und das Auslieferungsabkommen ist ein verbindliches Gesetz – steht das Prinzip der Gegenseitigkeit, wonach die beteiligten Staaten verpflichtet sind, umgekehrt auch einen aus Deutschland geflüchteten Verbrecher anstandslos auszuliefern. Internationale Verträge haben für die Gerichte Gesetzeskraft. Aber nun musste ausgerechnet ich, der ich den NS-Schreibtischmördern die Berufung auf ihre Gesetzesbindung nie abnehmen wollte, mich auf das „Gesetz ist Gesetz“ berufen. Danach ging es für uns allein um die Überprüfung der Fortdauer des Fluchtverdachts. Und daran, dass der Festgenommene sich nicht freiwillig in die Hände seiner Verfolger begeben würde, bestand kein Zweifel.
Nach den von der türkischen Staatsanwaltschaft vorgelegten Dokumenten und Zeugenaussagen konnte einerseits manches dafür sprechen, dass jener Bürgermeister einer türkischen Stadt vor seiner Flucht größere Geldmittel veruntreut hatte. Andererseits war nach dem Vorbringen des Flüchtlings nicht auszuschließen, dass es mehr um eine echte politische Verfolgung ging. Meine beiden Kollegen im Strafsenat sahen von vornherein kein Problem. Trotzdem habe ich mich mehrmals vertraulich mit dem Rechtsvertreter des Türken in Hannover in Verbindung gesetzt. Auch er konnte mir aber keinen Ausweg zeigen. Und so habe ich mich bei der Senatsberatung schweren Herzens überstimmen lassen. Trotzdem sehe ich mich in einer Mitverantwortung für das unbekannte Schicksal jenes damals ausgelieferten türkischen Bürgermeisters.
Lieber Freitod als in den Händen von Folterknechten
Was politisch Verfolgte von der jetzt absolut in die Diktatur eingebundenen türkischen Justiz zu erwarten haben, hatte ich im Frühjahr 1983 als Beobachter der politischen Prozesse in Ankara, Diyarbakir, auch in Gesprächen mit den türkischen Militärstaatsanwälten (alles Betonköpfe) selbst erlebt. Auch war mir das Schicksal von Cemal Altun bekannt. Cemal Altun hatte sich kurz nach dem türkischen Militärputsch vom 12. September 1980 in die Bundesrepublik geflüchtet und hatte Asyl beantragt. Zum Verhängnis und die Ursache für seine Verfolgung in der Türkei geworden war ihm die Mitgründung des progressiven Jugendvereins der Gymnasiasten in Ankara, seine enge politische Zusammenarbeit mit seinem prominenten älteren Bruder, Ansprachen auf Versammlungen, Verteilung von kritischen Flugblättern und das Kleben von Plakaten. Der Bruder war nach Frankreich geflüchtet, das ihm Asyl gewährt und eine Auslieferung verweigert hatte. Obgleich alles für eine gezielte politische Verfolgung dieses engagierten Demokraten und Gewerkschafters sprach und sich alle menschenrechtlichen Vereinigungen der Bundesrepublik, viele deutsche Rechtsanwälte und renommierte Politiker sich für ihn einsetzten, wurde alle juristische Gegenwehr von den Gerichten, vom Bundesverfassungsgericht und vom Berliner Kammergericht mit dürren Worten abgeschmettert. Als seine Auslieferung unmittelbar bevorstand, nahm der 23-jährige sich am 30. August 1983 bei einem Gerichtstermin in Anwesenheit der drei Richter durch einen Sprung aus dem sechsten Stock des Berliner Verwaltungsgerichts das Leben (vgl. Veronika Arendt-Rojahn (Hg.), Ausgeliefert. Cemal Altun und andere, Rowohlt-Taschenbuch, Reinbek 1983, im Internet-Antiquariat heute ca. 2,00 €, ebenso wie für das Buch Politische Prozesse in der Türkei).
Heute, nach dem Militärputsch vom 15. Juli 2016 und dem Gegenputsch Erdogans mit der menschenrechtlichen Verfolgung aller zu Feinden erklärten Andersdenkenden, vergleichbar mit der blitzartigen Verhaftung deutscher Demokraten nach dem Reichstagsbrand vom 26./27. Februar 1933, treiben die Dinge mich erst recht um. Auch mit der Frage: Wie werden heute die deutsche Regierung und unsere Gerichte verfahren, wenn es um die Auslieferung von in der türkischen Diktatur verfolgten Oppositionellen geht?
Die Doppelmoral der Auslieferungspraxis
Wie die jüngste Zeitgeschichte zeigt, ist die Auslieferungspraxis vom Prinzip der politischen Opportunität geprägt. In vielen Fällen des Verdachts auf politische Verfolgung kommt es nicht zur Auslieferung. Wenn aber wirtschaftliche und militärische Interessen, insbesondere Rüstungsgeschäfte, eine störungsfreie Zusammenarbeit mit dem türkischen Nato-Partner Vorteile verspricht, wird anstandslos ausgeliefert. So war es jedenfalls im Fall Cemal Altun im Jahr 1980. Damals hatte die Bundesrepublik im Rahmen von „militärischer Entwicklungshilfe“ (darunter Lieferung von U-Booten) die Türkei mit hunderten von Millionen DM gefördert.
Bei der jetzt allgemein bekannten Menschenrechtslage in der Türkei wird natürlich niemand mehr an eine Auslieferung von Menschen in die Türkei denken. Deshalb ist der von der Türkei angekündigte Antrag auf die Auslieferung angeblich nach Deutschland geflüchteter Richter nicht nur gegenstandslos, es ist auch die dreiste Provokation eines machtbesessenen Diktators.
Zum Buchbeitrag "Politische Prozesse in der Türkei"
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