Krieg als höchster Wert
Zweierlei Maß, wenn es um Menschenleben geht
Was in einem rechtsstaatlichen System – etwa im Fall eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges – nur in extremen Ausnahmefällen straflos bleiben darf, kann im Unrechtsstaat zur moralischen Pflicht und zu einer höchst ehrenvollen Tat werden: Der Widerstand gegen ein Unrechtsregime. Eben der letztere Fall war in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 eingetreten. Ganz besonderer Dank und höchste Achtung gehört denjenigen, die damals ihr Leben im Kampf gegen den verbrecherischen Angriffskrieg der Nationalsozialisten riskierten. Vom Anbeginn war es dringend geboten, dem „Rad [des Unrechts] in die Speichen zu fallen (Dietrich Bonhoeffer), diesem Krieg und den Aggressoren mit allen Mitteln, gerade auch mit dem Mittel des „Landesverrats“ in den Rücken zu fallen. Ausgerechnet denjenigen Soldaten, die wegen Kriegsverrats, d.h. wegen im Krieg begangenen Landesverrats zum Tode verurteilt worden sind, hat der Deutsche Bundestag eine Rehabilitierung versagt, im Unterschied zu den Kriegsdienstverweigerern, Deserteuren und Wehrkraftzersetzern. Wollte man für den Fall künftiger Angriffskriege vorbeugen? Dem Entwurf der Fraktion Die Linke zur Aufhebung der durch die Wehrmachtjustiz gefällten Todesurteile wegen Kriegsverrats sind die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries sowie die Fraktionen der CDU/CSU, und SPD und der FDP mit der Begründung entgegengetreten, die Kriegsverräter hätten durch ihre Handlungen oft ihre eigenen Kameraden in eine nicht ausschließbare Lebensgefahr gebracht. Das sei verbrecherisch gewesen. (Protokolle des Deutschen Bundestages vom 20. Mai 2007, 16. Wahlperiode, S. 9971). Dies Argument ist in doppelter Hinsicht verfehlt:
Historisch, in tatsächlicher Hinsicht, trifft der Vorwurf nicht zu. Keinem einzigen der 39 wegen Kriegsverrats ergangenen Todesurteilen[1] lässt sich eine Handlungsweise entnehmen, die zu einer Lebensgefahr für deutsche Soldaten hätte führen können. Die Beschuldigungen zielten durchweg auf allgemeine Unbotmäßigkeit, wie Aufsässigkeit gegenüber Vorgesetztenwillkür oder menschlichen Umgang mit Kriegsgefangenen, auch Hilfe für verfolgte Juden. Selbst in dem einzigen Fall, in dem (durch den Oberleutnant Schulze-Boysen) ein Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes über die Planung eines Angriffs auf die Sowjetunion informiert wurde, geschah dies nicht während der Kampfhandlungen sondern schon Monate vor dem Überfall auf die Sowjetunion. Gerade dies Urteil ist übrigens im Jahre 2005 von der Staatsanwaltschaft Berlin für aufgehoben erklärt worden. Die wenigen anderen Urteile, in denen landesverräterische Kontakte mit dem Kriegsgegner erwähnt werden, enthalten keinerlei Hinweise dafür, dass diese Kontakte mit einer Gefährdung von Kameraden hätten verbunden gewesen sein können. Im Gegenteil: Entsprechend ihrer unscharfen Jurisdiktion verwendeten die NS-Militärrichter den bewusst schwammig gefassten Tatbestand Kriegsverrat höchst willkürlich, meist kombiniert mit anderen Straftatbeständen, z.B. der Wehrkraftzersetzung. Als im Kriege begangene „Feindbegünstigung“ und damit vollendeten Kriegsverrat galt beispielsweise „bolschewistische Agitation“, etwa die Verteilung eines kommunistischen Flugblatts, das Zertrümmern eines Hitlerbildes. Als todeswürdig galt den Richtern des Reichskriegsgerichts fast jede Handlungsweise, die den Feind irgendwie „begünstigen“ oder der „ deutschen Kriegsmacht einen Nachteil“ hätte zufügen können. Die Behauptung, ein im Zweiten Weltkrieg begangener Landesverrat habe häufig auch die Lebensgefährdung von Kameraden eingeschlossen, ist erstmals überhaupt erst nach Kriegsende aufgetaucht, nämlich in der rechtsradikal gefärbten Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Lüneburg vom 12. Mai 1951.[2] Sinngemäß schloss sich die Staatsanwaltschaft Lüneburg der Darstellung des Beschuldigten, des an vielen dieser Todesurteile beteiligten Oberkriegsgerichtsrats Manfred Roeder an, wonach der Vorwurf eines von Verrätern aus dem Hinterhalt geführten „heimtückischen Dolchstoßes“ auch nach diesem verlorenen Krieg keine „Legende, sondern traurige Wahrheit“ sei (vgl. Manfred Roeder, Die Rote Kapelle, Hamburg 1952, S. 36).
Auch rechtlich ist der Vorwurf der Gefährdung von Kameraden nicht haltbar. Selbst wenn ein von dem verbrecherischen Charakter des
Hitler'schen Angriffskrieges überzeugter Bürger jemals mit dem Gegner konspiriert hätte, wäre das keine strafwürdige, sondern eine höchst ehrenwerte Tat gewesen. Die Mitteilung von Angriffs- und Aufmarschplänen an die Behörden eines mit einem eindeutig verbrecherischen Vernichtungskrieg überfallenen Landes erfüllt eine moralische Pflicht. Sie zielt darauf ab, dessen Bürger vor Mord und Zerstörung zu bewahren und einen Krieg abzukürzen, der Tod und unermessliches Leid auch für das eigene Land zur Folge hat. Es ist unerfindlich, wieso jeglicher Widerstand gegen einen noch so verbrecherischen Krieg, selbst gegen den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg, jede auf eine Abkürzung des Massensterbens zielende Sabotage „verwerflich und kriminell“ sein soll, sofern mit der Widerstandshandlung vielleicht auch das Leben der an dem Angriff beteiligten Soldaten irgendwie gefährdet werden könnte.
Mit welch zweierlei Maß wird hier gemessen? Die Rehabilitierung der von der Wehrmachtjustiz wegen Kriegsverrats Verurteilten wird verweigert, weil sie ihre eigenen Kameraden und die Zivilbevölkerung in Lebensgefahr gebracht hätten. Auf das angestrebte Ergebnis – die Herbeiführung eines schnelleren Kriegsendes und damit die Rettung von Hunderttausenden, ja vielleicht Millionen von Menschenleben, auch auf der eigenen Seite – soll es nicht ankommen. Was die konservativen Politiker, dabei wie bereits gesagt, auch in tatsächlicher Hinsicht irrig, den Verrätern des Zweiten Weltkrieges vorwerfen – eine Gefährdung der eigenen Kameraden – ging nicht von den Widerstandskämpfern aus, sondern von Hitler und der übrigen Wehrmachtsführung, die den verbrecherischen Angriffskrieg führten, einen Vernichtungskrieg, der neben Millionen von Opfern in den überfallenen Ländern auch das Leben von etwa drei Millionen deutscher Soldaten kostete. Und welch ein Verständnis vom Recht auf Widerstand! Jeder auf Rettung vieler Menschen der überfallenen Länder und des eigenen Landes gerichtete und damit naturgemäß mit der Gefährdung der eigenen Soldaten gerichtete Widerstand kriminell? Graf von Stauffenberg, der mit der Explosion im Führerhauptquartier am 20. Juli 1944 den Tod auch unbeteiligter niederer Ordonnanzen in Kauf nahm, nichts anderes als ein „simpler verbrecherischer Verräter“? Nach der Theorie der Gegner einer Rehabilitierung hätten „verwerflich“ und „kriminell“ gehandelt auch der Oberstleutnant und spätere Generalmajor Hans Oster und der Generaloberst Ludwig Beck, die die deutschen Angriffspläne und -termine an die Niederlande, Frankreich, Belgien, England, Jugoslawien, Dänemark und Norwegen verrieten. Wird hier ein Unterschied nur deshalb gemacht, weil es sich hier um Angehörige der militärischen Führungsstäbe handelte, nicht wie bei den meisten wegen Kriegsverrats Hingerichteten um einfache Mannschaften? Im Gegensatz zu höheren Stellen fehlte den unteren Diensträngen neben Verbindungsmöglichkeiten zu den Feindmächten ohnehin jeglicher Einblick in Angriffspläne und andere wichtige militärische Geheimnisse, deren Verrat das Leben von Kameraden hätte gefährden können. Das würde heute so niemand mehr sagen, schon weil es dem allgemeinen Konsens widerspricht. Aber noch vor wenigen Jahren konnte ein sächsischer Historiker den Urheber des Bürgerbräu-Attentats vom 9. November 1939 Georg Elser mit der Begründung diffamieren, mit dem Anschlag auf Hitler habe er auch das Leben unschuldiger NSDAP-Mitglieder gefährdet. Vielleicht gilt solchen reaktionären Historikern und Politikern aber nur der von konservativen Eliten, nicht der aus Arbeiterkreisen geleistete Widerstand als notwendig und ehrenvoll. Im übrigen halten sie noch immer an dem Verdikt fest, das die Staatsanwaltschaft Lüneburg im Jahre 1951 gegen die Oppositionellen der „Roten Kapelle“ aussprach: „Landesverrat hat noch immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten“. Mit dem Vorwurf, durch eine Zusammenarbeit mit dem „Feind“, insbesondere mit der Sowjetunion, die eigenen Kameraden verraten zu haben, klingen Töne an, wie man sie sonst nur aus der Zeit des Kalten Krieges gewohnt war. Und hinter der angestrengten Verachtung der Verräter des nationalsozialistischen Krieges steht ersichtlich das noch immer lebendige Gefühl einer tiefen Verbundenheit mit der vermeintlich unpolitischen Wehrmacht. Das traditionelle Ressentiment gegen entschlossenen Widerstand gegen einen Angriffskrieg, ja in diesem Fall tatsächlich sogar gegen die Abneigung gegen bloße Kriegsstörer, nährt sich aus den gleichen Quellen wie nach dem Ersten Weltkrieg die Dolchstoßlegende mit der Einstimmung auf einen neuen Krieg. Um aber keine Zweifel am Sachverhalt aufkommen zu lassen: Die wegen Kriegsverrat zum Tode verurteilten Soldaten hatten nicht das Leben ihrer Kameraden gefährdet, mit ihrem meist wenige professionellem Vorgehen hatten sie – leider – nicht einmal die nationalsozialistische Kriegsführung in nennenswerter Weise behindern können.
Doppelmoral
Ganz anders als bei ihrem Argumentieren mit der Gefährdung der Kameraden im Zweiten Weltkrieg stellen sich die besagten Parteien zu der Gefährdung von unbeteiligten Zivilisten in den neuen unter Beteiligung der Bundesrepublik geführten Angriffskriegen. Fast täglich wird gemeldet, dass bei Luftangriffen der US-geführten Truppen im Süden Afghanistans Dutzende von Zivilisten umgekommen sind. Schon in den ersten sechs Monaten des Jahres 2007 sollen die Kämpfe in Afghanistan mehr als 2.800 Menschen das Leben gekostet haben. Nach Angaben der Vereinten Nationen und von Menschenrechtsgruppen liegt die Zahl der zivilen Opfer höher als die der getöteten Aufständischen (vgl. Süddeutsche Zeitung v. 2.7.2007). Von rein zufälligen, völlig unvorhergesehenen seltenen „Kollateralschäden“ kann hier keine Rede mehr sein. Diese Menschenopfer in großer Zahl sind bei den von der Bundeswehr unterstützten Luftangriffen der US-Streitkräfte auf afghanische Dörfer von vornherein einkalkuliert. Nicht anders, nur noch schlimmer, geht es im Irak zu. Dort sterben täglich mindestens zwanzigmal so viele Zivilisten eines gewaltsamen Todes als Soldaten der Verbündeten. Es handelt sich ja „nur“ um Angehörige eines fremden Volkes. Um die genauen Zahlen der Opfer unter den Zivilisten kümmert sich keine Regierung. Wer von den verantwortlichen Politikern hat sich jemals Gedanken darüber gemacht, dass die Amerikaner mit der leichtfertigen Inkaufnahme des von so gut wie allen Wissenschaftlern vorausgesagten, von zahlreichen Selbstmordanschlägen begleiteten Bürgerkrieges statt versprochener Demokratie und Menschenrechten nur massenhaften Tod und soziales Elend in das überfallene Land importiert haben? Selbst den anspruchsvolleren Medien ist die Meldung, dass an einem einzigen Tag (8. Juli 2007) wieder einmal ein Selbstmordattentäter 150 Menschen neben vielen Schwerverletzten in den Tod gerissen hat, eine Nachricht nur in der Rubrik Vermischtes wert, nicht aber einer grundsätzlichen Überlegung über die vom Westen langjährig mitzuverantwortenden Ursachen des islamistischen Terrorismus. Für die Bundesregierung sind die genauen Zahlen ohnehin eine quantité négiable. Auf die Frage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele, wie viele Personen bei Einsätzen der deutschen KSK-Einheiten in Afghanistan getötet, verletzt oder gefangen genommen worden sind, antwortete der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Peter Wichert, solche „statistische Erhebungen“ würden nicht vorgenommen (vgl. Hans Leyendecker in Süddeutsche Zeitung vom 28.6.2007).
In der Bundestagsdebatte über den Antrag der Fraktion Die Linke am 10. Mai 2007 hatte der FDP-Abgeordnete Jörg van Essen den wegen Kriegsverrats Verurteilten die Gefährdung des Lebens ihrer Kameraden vorgeworfen, mit den Worten: „Leben ist ein kostbares Gut. Das gilt auch für das Leben von Soldaten, unabhängig davon (...) in wessen Dienst sie stehen. Achtung vor dem Leben ist eine der Kernaussagen unseres Grundgesetzes.“ (Protokolle des Deutschen Bundestages, 16. Wahlperiode, S. 9975). Für den Oberst der Reserve van Essen, Befürworter auch des Tornado-Einsatzes in Afghanistan, zählt anscheinend nur das Leben von Soldaten als kostbares Gut, nicht aber das Leben unschuldiger Zivilisten am Hindukusch und in anderen überfallenen Ländern. Sie können sich nicht auf das fundamentale Menschenrecht auf Leben berufen. Doch geht es doch wohl um Grundsätzlicheres. In einer weiterhin mehr von militärisch-technischen Kategorien als von humanem Denken geprägten Gesellschaft gilt der Krieg noch immer als absoluter Wert. Da kommt es auf die inhumanen Folgen eines Krieges wenig an.
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Dieser Aufsatz ist auch erschienen in: Ossietzky Zweiwochenzeitschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Nr. 17/2007 v. 25.08.2007, S. 671 ff
[1] Die 39 Todesurteile des Reichskriegsgerichts sind inzwischen sämtlich ausführlich dokumentiert bei Wolfram Wette (Hrsg.), Das letzte Tabu, NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Aufbauverlag. Berlin 2007.
[2] Vgl. Helmut Kramer, in: Wolfram Wette, Ebenda, S. 69 ff.