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Wette: Das letzte Tabu

NS-Militärjustiz und „Kriegsverrat“

Guido Kirchhoff, Mühltal

 

Wette: Das letzte Tabu

NS-Militärjustiz und „Kriegsverrat“

Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und „Kriegsverrat“

herausgegeben von Wolfgang Wette und Detlef Vogel

unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Aufbau-Verlag. Berlin 2007. 564 Seiten. 24,95 Euro.

Im Mai 2002 rehabilitierte der Deutsche Bundestag pauschal die Deserteure der Wehrmacht, mit einer Ausnahme: „Kriegsverräter“ (§ 57 Militärstrafgesetzbuch von 1934: im Kriege begangener Landesverrat) sparte er mit Zustimmung auch der SPD aus. Die hier dokumentierten Urteile der NS-Militärjustiz schaffen die Voraussetzung für eine sachgerechte Aufarbeitung eines längst überfälligen Themas. Deutlich wird, dass das Delikt „Kriegsverrat“ nicht selten erst in den Köpfen der Kriegsrichter entstand. Sie konstruierten aus widerständigen Handlungen eine Begünstigung des Feindes. Oft reichte zu einem Todesurteil, wenn der Angeklagte Kommunist, Sozialist oder Pazifist war und Kriegsgefangenen oder Juden geholfen hatte. Warum wurden diese Widerstandskämpfer bis heute nicht rehabilitiert? Im Raum steht noch immer der Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke (Bundestagdrucksache 16/3139 vom 25.10.2006), mit der die gesetzliche Rehabilitierung auch der wegen „Kriegsverrats“ Verurteilten gefordert wird.

Das Buch beschäftigt sich in Teil A zunächst mit den juristischen Grundlagen und historischen Zusammenhängen der Rechtsprechung zu Kriegsverrat und ähnlichen Delikten und schildert dann in Teil B die politische Bedeutung vor und nach 1945.

Für die Zeit nach 1945 beschäftigt sich in einem besonderen Beitrag des Buches (Teil C) Helmut Kramer mit der Aufarbeitung der Todesurteile gegen die „Kriegs- und Landesverräter“ nach 1945 („Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten“). Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Urteile des Reichskriegsgerichts war Gegenstand nur eines einzigen Verfahrens, des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Lüneburg 1950/1951 gegen den Oberstreichskriegsgerichtsanwalt Dr. Manfred Roeder, der die 47 Todesurteile gegen die Mitglieder der „Roten Kapelle“ erwirkt hatte. In einer spektakulären Einstellungsbegründung verneinte die Staatsanwaltschaft nicht nur einen Rechtsbeugungsvorsatz der Juristen des Reichskriegsgerichts. In einer Begründung, die auf eine Bestätigung der Todesurteile und eine amtliche Ehrenrettung der Richter des Reichskriegsgerichts hinauslief, warf sie der deutschen Militäropposition gegen Hitler ein „ungeheures Maß an Schuld“ vor. Dass das Reichskriegsgericht einige Mitglieder der „Roten Kapelle“, darunter Adolf Grimme, nur zu Zuchthaus, nicht zum Tode verurteilt hatte, erschien der Staatsanwaltschaft „rätselhaft“. Sie verdächtigte Adolf Grimme als getarnten Kommunisten und insgeheimen „Führers eines Kulturquaders der SED“, was sich auch in dem Programm des von Grimme geleiteten Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) abzeichne.

Die gesamte Einstellungsbegründung ist ein Paradebeispiel für die in der Justiz der frühen Bundesrepublik verbreitete Mentalität, bei der Beurteilung der nicht von nationalkonservativen bürgerlichen Kreisen ausgehenden Opposition den Widerstand gegen das NS-Regime aus der Perspektive des in die NS-Zeit zurückverlegten Kalten Krieges zu deuten. Deshalb tat die Staatsanwaltschaft die Ernsthaftigkeit der gegen Roeder erstatteten Strafanzeige mit dem Verdacht ab, dass die Anzeigeerstatter Günther Weisenborn und Adolf Grimme „im Auftrag der Ostzonenregierung“ und der Sowjetunion handelten. Und in den Belastungszeugen, den überlebenden Mitgliedern der „Roten Kapelle“, sah die Staatsanwaltschaft nichts anderes als „Menschen, die sich in einen maßlosen Hass gegen den nationalsozialistischen Staat hineingesteigert haben und die aus diesem übersteigerten Hass auch heute noch nicht herausgefunden haben zu einer objektiven Würdigung des Geschehens“.

Den weitaus größten Teil des Buches nimmt die Schilderung persönlicher Schicksale und Dokumentation von 29 Urteilen wegen Kriegsverrats gegen 63 Wehrmachtsangehörige ein, nebst einige Anklageschriften und weiteren Dokumenten.

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Ein umfangreiches Literatur- und Personenregister runden ein sehr interessantes, gut lesbares und gegliedertes und durch die Originaldokumente anschauliches Buch ab. Es ist zu hoffen, dass der dadurch intensivierte Appell zur Aufhebung auch der Kriegsverratsurteile angesichts der erschütternden Einzelschicksale nicht ungehört bleibt.

Guido Kirchhoff, Mühltal

erschienen in: Betrifft Justiz, Heft 3/2007