Soziales Engagement verboten
Strukturmängel der deutschen Justiz
Helmut Kramer
in: Günter Grass, Daniela Dahn, Johanno Strasser (Hg.)
In einem reichen Land.
Göttingen 2002, S. 527 ff
Steidl Verlag
„Freiheit ist die Freiheit des anders Denkenden“, sagte Rosa Luxemburg. Sie hätte ergänzen können und hat es sicher nicht anders gemeint: Das Recht ist auch das Recht des Anderen.
Eines der vornehmsten Rechte des Bürgers: sich für die Rechte anderer einsetzen zu dürfen, wird in der Bundesrepublik allerdings nicht anerkannt. Ein in der gesamten westlichen Welt einzigartiges Gesetz verbietet allen Bürgern – mit Ausnahme der Rechtsanwälte und einiger weniger anderer privilegierten Gruppen – nicht nur die kommerzielle, sondern auch die uneigennützige rechtliche Beratung und Vertretung anderer Bürger: das Rechtsberatungsgesetz (RBerG).
Von den Nationalsozialisten am 13. Dezember 1935 erlassen, hatte es mit einer in einer Ausführungsverordnung versteckten Bestimmung (§ 5: „Juden wird die Erlaubnis nicht erteilt“) in erster Linie darauf abgezielt, die aus ihren Berufen vertriebenen jüdischen oder politisch missliebigen Richter und Rechtsanwälte von jeder rechtsberatenden Tätigkeit auszuschließen. Inzwischen, nachdem jener § 5 gestrichen worden ist, wird das Gesetz nach „herrschender Meinung“ als vollständig entnazifiziert angesehen. Prominente Juristen reagieren empört und beleidigt auf die bloße Erwähnung der Entstehungsgeschichte. Dem NS-Gesetzgeber sei es in bester Absicht allein darum gegangen, die Anwaltschaft vor unguter Konkurrenz zu schützen, und darum, den gutgläubigen Bürger vor Schaden durch „unqualifizierte Rechtsberatung“ zu bewahren.
Tatsächlich ist das RBerG ein Lehrstück dafür, wie Juristen, trotz ihres hochentwickelten Methodeninstrumentariums, ja sogar mit dessen Hilfe, Unrecht mit dem Schein des Rechts versehen und es damit zugleich aus der öffentlichen Diskussion auszublenden verstehen.
Schon die Gesetzesformulierung betreibt Nebelwerferei. Dies geschieht mit der Verwendung des auf den ersten Blick unverfänglich erscheinenden Begriffs „geschäftsmäßig“. Um die Verfassungswidrigkeit des Verbots altruistischer Betätigung zu verschleiern, ist nur die „geschäftsmäßige“ Rechtsberatung untersagt. Bei dem Begriff „geschäftsmäßig“ stellt sich der uneingeweihte Bürger etwas Anrüchiges vor. Geschäftsmäßig handelt in der Fachsprache der Juristen aber nicht nur, wer aus der Rechtsberatung „ein Geschäft“ macht, sondern bereits derjenige, der in einem einzigen Fall einem Freund oder Verwandten unentgeltlich eine Rechtsauskunft erteilt und sich dabei vorgenommen hat, auch künftig in Rechtsnot geratenen Mitbürgern seine Hilfe nicht zu versagen; bereits dann nehmen die Gerichte die für die Annahme von „Geschäftsmäßigkeit“ erforderliche „Wiederholungsgefahr“ an. Übrigens hat der Bundesgesetzgeber das NS-Gesetz noch verschärft, indem er durch eine auf den ersten Blick harmlos erscheinende Gesetzesänderung von 1980 die altruistische Rechtsberatung von der in der Regelung von 1935 noch vorgesehenen Möglichkeit der Erlaubniserteilung vollständig ausgenommen hat.
Die meisten Fälle solcher Beratungen werden allerdings stillschweigend geduldet. Für Fälle, in denen der Rechtsrat in Form eines kostspieligen „Rechtsgutachtens“ erteilt wird, sieht das Gesetz sogar eine Ausnahme von dem Verbot vor. So konnte der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident Horst Heinrichs für die Beratung der IG Metall ungestraft ein Honorar von 1,34 Millionen DM kassieren. In einem selektiven Vorgehen wird die Waffe des RBerG von den Behörden vielmehr meist dann in Anschlag gebracht, wenn es gilt, Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen, von Bürgerinitiativen und der freien Wohlfahrtsverbände in ihrem Engagement zugunsten von Randgruppen zu behindern.
Wen es trifft ...
Opfer des RBerG sind fast immer sozial Schwächere, Angehörige gesellschaftlicher oder politischer Randgruppen. Je mehr am Rande der Gesellschaft Lebende auf Hilfe in sozialen Notlagen und auf Aufklärung über die ihnen zustehenden Rechte angewiesen sind, um so entschlossener besinnen sich Verwaltungsbehörden auf das Verbot der altruistischen Rechtsberatung, um ihnen lästig erscheinende Bittsteller und ihre Ratgeber sich auf bequeme Art vom Hals zu schaffen. Wer sich zum Fürsprecher eines Opfers von Machtmissbrauch und Behördenwillkür macht, läuft dann selbst Gefahr, mit einem Bußgeldverfahren überzogen zu werden.
Auffällig viele Ordnungswidrigkeitenanzeigen – Verstöße gegen das RBerG sind mit Geldbuße bis zu 5.000 € bedroht – werden von Ausländerbehörden gegen in ihrer Freizeit tätige Helfer erstattet, die sich um ausländische Flüchtlinge kümmern. Um diese Helfer zusätzlich unter Druck zu setzen, wird ihnen angedroht, man werde ihre Schützlinge, bei denen es sich mitunter um traumatisierte Folteropfer handelt, vor die Kriminalpolizei laden, um sie über die Einzelheiten der rechtlichen Beratung zu vernehmen.
Wer einem von der Abschiebung bedrohten irakischen oder anderen Flüchtling einen Antrag auf Gewährung des Bleiberechts formuliert, gerät leicht in Konflikt mit dem RBerG (belegt durch Vorkommnisse aus Augsburg, Kassel, Lindau, Meerbusch, Stuttgart und Iserlohn). Welcher Abschiebehäftling findet aber für sein Taschengeld von etwa sechs Euro pro Woche einen Rechtsanwalt mit Fachkompetenz, der sich die Mühe macht, ihn in den von den Städten oft weit entfernt liegenden Abschiebegefängnissen aufzusuchen und ihn engagiert zu beraten?
Lieber rechtlich unberaten sehen auch manche Sozialämter solche Bürger, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, die ihnen nicht selten mit juristischen Kunstgriffen oder gar bewusst falschen Auskünften versagt oder verkürzt wird. Selbst den ehrenamtlichen Mitarbeitern von Kirchengemeinden ist verboten worden, sozialhilfeberechtigten Flüchtlingen mit Rechtsrat und durch Formulierungshilfen beizustehen. Dass solche Verbote von Gerichten (unter anderem in Aachen und Münster) bestätigt worden sind, lässt den Verdacht aufkommen, dass einigen Richtern die bisherige Aushöhlung des Asylrechts nicht weit genug geht, zumindest dass es ihnen am notwenigen Einfühlungsvermögen in die Situation von Sprach- und Rechtsungewandten fehlt.
In Stuttgart ist auf Betreiben der dortigen Rechtsanwaltskammer der Caritasverband verurteilt worden, die Tätigkeit seiner Flüchtlingsberatungsstelle einzuschränken. Deren Mitarbeiter dürfen die Flüchtlinge nur noch in Ausnahmefällen beim Gang zum Verwaltungsgericht begleiten, obwohl angesichts der geringen Gebührensätze in Sozialhilfesachen und der noch geringeren Gebührensätze (20 Euro) vertretungsbereite Rechtsanwälte kaum zu finden sind.
Gewiss ist es psychologisch verständlich, wenn manche Beamte sich nicht gern auf die Finger schauen lassen. Auch mag es für Behörden bequemer sein und die entstehenden finanziellen Verpflichtungen verringern, wenn zu bescheidende Anträge und Rechtsmittel überhaupt nicht oder erst nach Versäumnis von Ausschlussfristen eingehen. Mit den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats lässt sich diese Art, Bürgern die Ausübung von Rechten zu erschweren, aber nicht in Einklang bringen. Und schon gar nicht mit der Pflicht eines jeden Beamten und jeden Richters, rechtliche Benachteiligungen auszugleichen. Man hört immer wieder von Versuchen, Bewährungshelfer, Anstaltspfarrer und Sozialhelfer, die ihren von Rechtsproblemen bedrängten Probanden und Schützlingen beistehen möchten, mit dem Hinweis auf das RBerG einzuschüchtern.
In Nördlingen hatte der Geschäftsführer des Vereins „Internationale Integration e.V.“ nach Aufdeckung von Inkorrektheiten des Sozialamts namens der benachteiligten jüdischen Emigranten Strafanzeige gegen die Mitarbeiter des Sozialamts erstattet. Nun wurde er selbst verurteilt – wegen Verstoßes gegen das RBerG.
Wie sehr manche Juristen zum Missbrauch des RBerG neigen, zeigt ein Fall aus Velbert: Dort hatte die Staatsanwaltschaft den bosnischen Bürgerkriegsflüchtling Elvedin A. aus Srebeniza des „illegalen Grenzübertritts“ beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft billigte dem Muslim zwar im Prinzip das Recht zur Flucht zu, machte den straflosen Übertritt in die Bundesrepublik indessen von der vorherigen Erlangung eines Visums abhängig. Einen Rechtsanwalt konnte der Flüchtling sich nicht leisten. Deshalb wurde er zu der Gerichtsverhandlung von einem Pfarrer – Mitglied einer Flüchtlingsinitiative – begleitet. Den verwies der Richter unter stillschweigender Berufung auf das RBerG in den Zuschauerraum, um sodann den seines einzigen Fürsprechers Beraubten unter Androhung einer möglichen Strafverschärfung dazu zu bringen, seinen Einspruch gegen den Strafbefehl zurückzunehmen.
Unter der Robe eines Richters wird man nicht ohne weiteres Fremdenfeindlichkeit vermuten dürfen. Nur scheint es auch in der Justiz mitunter unterschiedliche Grade von ausländerfreundlicher Gesinnung zu geben. Und nimmt man den Gesamtbereich von Justiz und Verwaltung in den Blick, handelt es sich hier um keinen Einzelfall im Umgang mit Ausländern. Immer wieder hört man von Kammern der Verwaltungsgerichte, die ehrenamtlich tätige Fürsprecher von Ausländern von der Verhandlung ausschließen, während andere Kammern der Notwendigkeit, einer Kompensation der erhöhten Sprach- und Rechtsunkundigkeit von Ausländern Rechnung tragen.
So wenig Anstoß an der rechtlichen Beratung von besser Betuchten genommen wird – etwa wenn sich Mitglieder des Rotary-Clubs untereinander beraten –, so rasch kann der mit einem Bußgeldverfahren überzogen werden, der gesellschaftlich Benachteiligten zu ihrem Recht verhelfen möchte: Obdachlosen, Arbeitslosen, überschuldeten Bürgern oder alten Menschen, die sich gegen die oftmals entsetzlichen Missstände in der Altenpflege wehren möchten. Auch hier wird der vorgebliche Schutzzweck – die Rechtsuchenden vor Schaden zu bewahren – in sein Gegenteil verkehrt. Eher soll ein mittelloser Bürger völlig unberaten bleiben, als vielleicht einmal eine falsche Empfehlung zu erhalten, die ihm übrigens selbst von einem Rechtsanwalt zuteil werden kann.
Auf einen Missbrauch des RBerG läuft es auch hinaus, wenn rechtlich versierte Strafgefangene daran gehindert werden, Mitgefangene über ihre Rechte nach dem Strafvollzugsgesetz zu informieren. Als das Komitee für Grundrechte und Demokratie einem Strafgefangenen der Justizvollzugsanstalt Würzburg einen von ihm erbetenen Kommentar zur Strafvollzugsordnung übersandte, verweigerte der Anstaltsleiter unter Berufung auf das RBerG die Aushändigung. Die Beantwortung einer Beschwerde des Komitees lehnte er ab, da das Komitee mit dem (zurückhaltend formulierten) Hinweis auf den NS-Ursprung des Gesetzes die Vollzugspraxis der JVA Würzburg „als grundrechtswidrig bezeichnet und mit einer menschenverachtenden Gesellschaftsordnung in Verbindung gebracht“ habe. In seiner Gesinnungstüchtigkeit verkannte der auf die Verteidigung der F.D.G.O. bedachte Anstaltsleiter, dass der demokratische Rechtsstaat auch durch das rigorose Festhalten an einem verfassungswidrigen Gesetz nationalsozialistischer Herkunft beschädigt werden kann.
Zerschlagung von Bürgerinitiativen
Gelegentlich dient das RBerG dem Versuch, solidarisches Vorgehen von Bürgern im Kampf gegen Behördenwillkür und andere Zumutungen zu unterbinden. Denn auch die von einer zweifelhaften Maßnahme einer Verwaltung oder sonstigen Institutionen Betroffenen dürfen sich nicht zu wechselseitiger Beratung zusammentun. Deshalb bewegen sich sogar Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, für die es um die Klärung und Durchsetzung gemeinsamer Rechtspositionen geht, in einer rechtlichen Grauzone. So wird unter Berufung auf das RBerG Arbeitsloseninitiativen das Leben schwer gemacht. Bieten sie öffentlich eine Beratung in Sozialhilfesachen an, kommt es prompt zu einer Durchsuchung der Wohnung der Organisatoren. So geschehen in Itzehoe. Auch der Arbeitslosenselbsthilfe Rendsburg e.V. wurde die Beratung in Sozialhilfesachen verboten.
All dies geschieht unter dem Deckmantel des „Verbraucherschutzes“. Der Hinweis auf die Unbezahlbarkeit eines Anwalts für Mittellose und darauf, dass im Sozialversicherungsrecht versierte Anwälte kaum zu finden sind, verfängt da nicht. Was besagt dies schon angesichts der unbeschränkten Gültigkeit des Gleichheitssatzes, der da (frei nach Anatol France) lautet: Es ist dem armen Flüchtling und Sozialhilfeempfänger wie dem Multimillionär gleichermaßen gestattet, den honorarpflichtigen Rat eines zugelassenen Rechtsanwaltes in Anspruch zu nehmen oder aber nach freiem Belieben ganz auf Rechtsrat zu verzichten.
In Meißen hatten die 50 Parteien einer Plattenbausiedlung schon in den achtziger Jahren eine locker organisierte Hausgemeinschaft gebildet. Man pflegte gemeinsam die Außenanlagen und veranstaltete gemeinsame Feste. Im Jahre 1999 stellte sich heraus, dass die Städtische Wohnbaugemeinschaft „versehentlich“ einen überhöhten Mietzins berechnet hatte. Als der Sprecher der Mieterinitiative – ein 71jähriger Rentner – von der Städtischen Wohnbaugenossenschaft eine genaue Abrechnung einforderte, wurde er wegen Verstoßes gegen das RBerG vor dem Landgericht Dresden verklagt. In diesem Fall hatten die klagenden Rechtsanwälte sich allerdings allzu sehr auf die Neigung der Mainstream-Juristen verlassen, die „h.M.“ (herrschende Meinung) kritiklos zu verteidigen und fortzuschreiben. So wurde die Klage im grundrechtsangepasster Anwendung des RBerG abgewiesen – eine Aufhellung der „wissenschaftlichen Nacht“ (Kleine-Cosack), die das RBerG noch immer umgibt.
Ein anderes Ergebnis hätte die Meißener Bürger auch doppelt verwundert. Schließlich hatten sich die Einwohner der DDR von der „Wende“ einen verbesserten Zugang zum Recht erhofft. Nun mussten sie erfahren, dass das in der DDR als unwirksam behandelte Verbot der altruistischen Rechtsberatung infolge des Einigungsvertrages von 1990 auf das „Beitrittsgebiet“ erstreckt worden war.
Unter Berufung auf das RBerG lassen sich Nachbarschaftsinitiativen und Selbsthilfegruppen aller Art – wie Patientengruppen, Tauschringe, Zusammenschlüsse von Versicherungsunternehmern (Fälle aus Berlin und Papenburg) – behindern. Ärzte und Psychotherapeuten sind durch das Gesetz daran gehindert, ihren Patienten bei der Durchsetzung von Ansprüchen gegen die Krankenkassen beizustehen (Fälle aus Berlin und Köln). Besonders rigoros – auch hier wieder mit Hausdurchsuchung – reagieren Staatsanwaltschaften, wenn sich Bürger zusammenschließen, um nach vielleicht leidvollen persönlichen Erfahrungen ihre Interessen gemeinsam in einem „Verein der Notargeschädigten“ zu verfolgen. Prompt wird mit einer Maßnahme reagiert, zu der sich die Staatsanwaltschaften im Fall eines Helmut Kohl nicht entschließen konnten : Mit gerichtlichem Durchsuchungsbeschluß wurde die Wohnung des Initiators durchwühlt (Fall aus Roklum bei Wolfenbüttel).
Fragt man nach der Zwecksetzung des RBerG, so erhält man zur Antwort ein unklares Gemisch von Schutzzwecken. Im Vordergrund soll der „Schutz der Rechtsuchenden vor unsachgemäßer Rechtsberatung“ stehen. Auf den Hinweis, dass in den bislang vor die Gerichte gebrachten Fällen dieser Schutz sich noch immer in sein Gegenteil verkehrt hat – der rechtsuchende Bürger wurde seines oftmals einzigen rechtlichen Fürsprechers beraubt –, werden weitere Zwecke nachgeschoben: Die Anwaltschaft müsse vor Konkurrenz geschützt werden, oder – weil Konkurrenzschutz kein verfassungsrechtlich zulässiger Gesetzeszweck ist – das Gesetz diene der „Aufrechterhaltung einer leistungsfähigen Anwaltschaft“.
Von der Beratung von Menschen, die – wie viele Flüchtlinge – mit Bezügen weit unter dem Sozialhilfesatz auskommen müssen, geht der Anwaltschaft aber keine einzige Mark verloren. Deshalb wird von der Rechtsprechung ein weiterer Gesetzeszweck ins Feld geführt, mit dem schon die NS-Machthaber das Gesetz begründet hatten: die „Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs von Verwaltung und Rechtspflege“. In den Begründungen der Urteile von heute wird dieser Zweck allerdings nur verschämt angedeutet, erinnert er doch allzu sehr an das Strafgesetzbuch der DDR, dessen § 214 gegen „Beeinträchtigungen staatlicher Tätigkeit“ gerichtet war. In der Tat sollte die strafbewehrte Abschirmung der Tätigkeit von Gerichten und Behörden vor engagierter Bürgerbeteiligung autoritären Regierungssystemen vorbehalten bleiben.
Um nichts anderes als um die Abwehr demokratischen, und zwar rechtspolitischen Engagements geht es in all den Fällen, in denen altruistisch tätige Bürger vor Gericht gestellt werden, deren fachliche Kompetenz außer Zweifel steht. Ein Fall aus Braunschweig, so unwahrscheinlich, dass man ihn als juristisches Lügenmärchen abtun möchte. Doch alles ist aktenkundig: Zwei rechtserfahrene Kriegsdienstverweigerer werden vor dem Amtsgericht Braunschweig angeklagt, weil sie andere Totalverweigerer verteidigt haben. Nun tritt ein Richter – der Verfasser – für sie ein, als Verteidiger, gleichfalls mit gerichtlicher Zulassung. Am Ende seines Plädoyers erstattet er Anzeige gegen sich selbst. Darauf wird auch er vom Amtsgericht zu einer Geldbuße (600 DM) verurteilt. Unerlaubte „geschäftsmäßige Rechtsberatung“ sehen Amtsgericht und das Oberlandesgericht auch darin, dass der Verfasser neun Jahre zuvor (1990) die zunächst untätig gebliebene Staatsanwaltschaft Braunschweig dazu gebracht hat, ein nationalsozialistisches Terrorurteil gegen eine im Jahre 1944 hingerichtete junge Frau aufheben zu lassen. Vor allem aber habe er dadurch gegen das RBerG verstoßen, dass er das RBerG selbst auf den Prüfstand des Grundgesetzes habe stellen wollen, indem er die beiden Totalverweigerer verteidigt habe.
Pazifistisches Engagement brachte den Verfasser inzwischen erneut vor Gericht. Angeklagt von der Staatsanwaltschaft Berlin war zunächst Frau Dr. Elke Steven, weil sie in einer Anzeige in der taz vom 22. April 1999 den Krieg gegen Jugoslawien in einer strafrechtlich angeblich ungehörigen Weise kritisiert hatte, nämlich die Soldaten zur Verweigerung aufgerufen hatte. Der Verfasser trat der Pazifistin – wiederum mit gerichtlicher Zulassung – als Verteidiger zur Seite und erwirkte einen Freispruch. Nun wurde er selbst angeklagt. Die Taten, deretwegen er diesmal zu 1.000 DM Geldbuße verurteilt wurde: Er hatte der Pazifistin Auskünfte über das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, über das Völkerrecht und die Rechtsproblematik eines als „humanitäre Aktion“ deklarierten Angriffskrieges erteilt und habe sie verteidigt. In der Tat, nicht nur mit der Kritik an Kriegseinsätzen der Bundeswehr, sondern auch mit der Verteidigung solcher Kritik werden eminent politische Interessen tangiert. Und nach der „herrschenden Meinung“, die oft genug nichts anderes als die Meinung der Herrschenden ist, ist im Rechtsberatungsbereich auch die Betätigung politischen Engagements strikt verboten.
Wer von dem NS-Gesetz profitiert ...
Dass das Gesetz Gerichte und Behörden vor als lästig empfundener Inanspruchnahme abschirmt, liegt auf der Hand. Doch gibt es weitere Nutzungsmöglichkeiten. Findige Rechtsanwälte machen ein Geschäft daraus, dass sie altruistische Helfer wegen „geschäftsmäßiger Rechtsberatung“ auf Unterlassung verklagen. Das geht so: Nach dem „Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb“ (UWG) genügt für eine Abmahnung jeder Verstoß gegen ein Gesetz, das eine Berufsgruppe – hier die Anwaltschaft – schützt. Das gibt jedem Rechtsanwalt eine Klagebefugnis an die Hand. Und dem Anwalt, der erfolgreich eine solche Klage erhebt, winken die hohen Prozessgebühren, die Rechtsanwälte auch in eigener Sache liquidieren dürfen. So lässt sich unter Berufung auf ein Gesetz, das die uneigennützige Rechtsberatung verbietet, in einem von Eigennutz keineswegs freien Vorgehen Kapital herausschlagen.
Ein Fall aus Köln, der inzwischen Nachahmer gefunden hat: Eine Frau lässt ihren Lebensgefährten in einer Mietrechtssache einen Brief an den Vermieter schreiben. Dessen Rechtsanwalt kontert erfolgreich mit einer Klage nach dem UWG: Der Mann wird zur Unterlassung verurteilt; an den Anwalt muss er allein für eine Gerichtsinstanz Anwaltskosten von etwa 2.240 DM zahlen, dies summierte sich mit den Gerichtskosten und den Gebühren seines eigenen Anwalts auf 5.630 DM. Verwandte und selbst den Ehegatten darf man nun einmal rechtsberatend nicht zur Seite stehen, auch nicht kostenlos. So jedenfalls nach „herrschender Meinung“. Das OLG Oldenburg hat klargestellt, dass auch ein Sohn seiner gebrechlichen Mutter nicht den Weg zum Gericht abnehmen darf, auch wenn in der Vorladung ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, dass sie sich durch jede volljährige Person vertreten lassen dürfe.
Allerdings werden manche Bürger von den Strafverfolgungsbehörden „gleicher als die Gleichen“ behandelt. Das gilt natürlich für viele Staatsanwälte und Richter selbst. Würden sämtliche Verstöße gegen das RBerG verfolgt, so wären die Justizangehörigen mit Ermittlungen gegen sich selbst ausgelastet. Ein anderer Fall, ein Fall aus Braunschweig: Ein Universitätsprofessor vertritt gegen lukratives Honorar einen des Abrechnungsbetruges verdächtigen Chefarzt in einem Arbeitsgerichtsprozess. Die Staatsanwaltschaft erfährt davon aus der Presse, greift die Sache aber nicht auf.
Vom Nutzen und Nachteil der Historie
Auf den ersten Blick erscheint es rätselhaft, dass sich ein derartiges, altruistisches und solidarisches Verhalten denunzierendes Verbot 55 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches unangefochten halten konnte, nachdem übrigens in den 55 Jahren vor 1935 das Prinzip der freien Rechtsberatung sogar im kommerziellen Bereich gegolten hatte, ohne dass es zu nennenswerten Misshelligkeiten gekommen war. Schließlich gehört Hilfsbereitschaft zu den vornehmsten Rechten des Bürgers. Man stelle sich einmal vor: Der unermüdlich auf das Wohl seiner Untertanen bedachte Gesetzgeber würde in allen Bereichen, in denen ungeschickte Hilfe zu Nachteilen führen kann, dem Bürger verbieten, seinem Nächsten mit Rat und Tat zu helfen. Man denke etwa an elektrische Installationen, Autoreparaturen und andere gefahrenträchtige Verrichtungen. Tatsächlich ist unentgeltliche Nachbarschaftshilfe aber sonst uneingeschränkt erlaubt. Auch ist die Erteilung von Ratschlägen für gefährliche Alpintouren nicht etwa konzessionierten Bergführern vorbehalten. Und nach dem Heilpraktikergesetz (von 1939) sind sogar kostenlose medizinische Ratschläge und Behandlungen jedermann gestattet. Ein moderner barmherziger Samariter muss sich aber davor hüten, seinen Schützling über etwaige Schadensersatzansprüche gegen die Räuber aufzuklären.
Von all diesen riskanten mitbürgerlichen Hilfestellungen unterscheidet sich die Beratung in Rechtsfragen allerdings durch den ausgeprägten Politikbezug des Rechtsbereichs. Hier liegt der Grund dafür, dass die Nationalsozialisten besonderen Wert auf das Verbot der selbstlosen Rechtsberatung gelegt und es sogar auf Volljuristen erstreckt haben. Die kritische juristische Intelligenz erschien ihnen gerade dort gefährlich, wo sie sich lediglich altruistisch und nicht gegen klingende Münze oder gar mit Aussicht auf Aufstieg im Staatsapparat betätigte. Kritische Blicke in die Justiz- und Verwaltungspraxis sollten verhindert werden.
Wenn diese Vorgeschichte (näheres zu der Entstehungsgeschichte bei Kramer, Kritische Justiz 2001, S. 600 ff) im Mainstream der heutigen Justiz ausgeblendet wird, liegt dies nicht zuletzt an der nahezu totalen Ausklammerung der Justizgeschichte in der Juristenausbildung. Angehende Juristen hören an den meisten Rechtsfakultäten kein Wort zu der Frage, warum Richter mit einer gediegenen, bis heute im Kern unverändert gebliebenen Ausbildung ab 1933 gewissermaßen über Nacht zu Mördern in der Robe werden konnten. Nur aus dem Desinteresse an der Justizvergangenheit lässt sich auch die Unbeschwertheit erklären, mit der der Hinweis auf den Ursprung des Gesetzes als ungehörig abgetan wird. So greift nach Ansicht des früheren Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer Felix Busse „tief unter die Gürtellinie“, wer das Gesetz als Relikt aus der Nazi-Zeit bezeichnet.
Eine solche Zurückweisung des rechtsgeschichtlichen Argumentierens nimmt sich umso merkwürdiger aus, als fast gleichzeitig ein Staranwalt (Rainer Hamm) das entgegengesetzte Verfahrens zum Nachweis dafür wählte, dass die Einstellung des Strafverfahrens gegen Helmut Kohl von der Zahlung einer Geldbuße abhängig gemacht worden sei, anstatt ihm seine absolute Unschuld zu attestieren: Schließlich stamme der Untreue-Paragraph (§ 266 StGB) in seiner heutigen Formulierung aus der Nazi-Zeit. Ein schönes Beispiel für die Vielseitigkeit der juristischen Methode und den ergebnisorientierten, zielbewussten Umgang vieler Juristen mit ihrem Methodeninstrumentarium: Je nach gewünschtem Ergebnis greift man mal in das eine, mal in das andere Argumentationsfach.
Würden sich Juristen mehr mit der Justiz im Dritten Reich beschäftigen, so würde ihnen ein Licht aufgehen: Unrecht kann auch im Gewande rechtlicher Formen auftreten. So wie die Nationalsozialisten scheinbar mit legalen Mitteln an die Macht gelangt sind, haben Juristen im weiteren Verlauf des Dritten Reiches auch die schlimmsten Unrechtshandlungen – darunter mindestens 50.000 Todesurteile – mit dem Schein des Rechts versehen, Unrecht als Recht hingestellt. Mit dem Einsatz ihres reichhaltigen juristischen Methodeninstrumentariums verrechtlichten sie das Unrecht, legitimierten sie den Terror, errichteten sie vor dem Unrecht eine Legalitätsfassade. Sie kamen nicht trotz ihrer gediegenen juristischen Ausbildung, sondern mit Hilfe der noch zu demokratischen Zeiten erlernten Rechtstechniken zu ihren mörderischen Ergebnissen.
Wo aber liegen die tieferen Ursachen für das strikte Festhalten an dem Verbot der altruistischen Rechtsberatung? Geht es um die Einnahmequellen? Unentgeltliche Rechtsberatung bedeutet aber keine Konkurrenz für den Berufsstand. Stellt altruistisches Handeln etwa die Selbstgewissheit einer allein am Profitstreben ausgerichteten Gesellschaft in Frage? Ist es die tiefe Verunsicherung, die für das Wertesystem einer überwiegend kapitalistisch strukturierten Gesellschaft von Menschen ausgeht, die sich in ihrem Handeln nicht nur vom Eigennutz, sondern auch vom Gedanken an Solidarität und an das Gemeinwohl leiten lassen?
Auf eine solche Verachtung des Altruismus läuft es jedenfalls hinaus, wenn in dem führenden, von den Richtern Günter Rennen und Renate Caliebe verfassten Kommentar zum RBerG ausgeführt wird, dass im Bereich der Rechtsberatung auch die Betätigung von „christlicher Nächstenliebe“ und von „sozialem Engagement“ verboten sei, so, als ließe sich in einer zunehmend verrechtlichten Welt humanitäre Hilfe von rechtlicher Beratung trennen.
Hier fragt man sich unwillkürlich, wie lange ein vielleicht ursprünglich sozial und sensibel denkender Mensch der noch immer auf das rein Technokratische reduzierten Juristenausbildung ausgesetzt sein muss, bis er unreflektiert solche Formulierungen in Druck gibt. Nicht nur im „Internationalen Jahr des Ehrenamtes“, zu dem das Jahr 2001 erklärt worden ist, vernahm man aus Politikermund viele wohlklingende Appelle an Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft. All diese Mahnungen werden unglaubhaft, wenn gleichzeitig mit der Aufrechterhaltung und Praktizierung des RBerG Altruismus und Solidarität als Rechtsbruch denunziert werden.
Wenn die Profession so unbeirrbar auf dem Verbot des Gesetzes von 1935 besteht, hat dies mit den Strukturen einer noch immer im obrigkeitlichen Denken verharrenden Justiz zu tun. Obwohl in jedem Machtprozess Juristen auf beiden Seiten des Zauns zu finden sein werden, schlagen sich die meisten Juristen auf die Seite, die eine schon bestehende Machtposition hält und verteidigt. Minderheiten, bloße Aspiranten auf Macht und die wirtschaftlich schlechter Gestellten haben seit jeher Schwierigkeiten, juristisches Talent für sich zu gewinnen (Ralf Dahrendorf).
Aber das Recht ist eine viel zu wichtige Sache, als dass man es den Juristen allein überlassen darf. Wie jede demokratische Institution bedarf auch das Recht der Partizipation des Bürgers, der Rückkoppelung durch die Bürger. Deshalb ist es die Aufgabe aller, sich um das Recht zu kümmern, in aktiver Einmischung über die Möglichkeiten zur Verwirklichung des Rechts nachzudenken und darüber, wie mit den Mitteln des Rechts Machtmissbrauch und Willkür zu verhindern, wie Gleichheit und sozialer Ausgleich herzustellen und Grundrechte zu schützen sind.
Es ist zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde des Autors uns endlich von der nationalsozialistischen Altlast des Verbots der ehrenamtlichen Rechtsberatung befreien wird.