Zur Veruntreuung der öffl. Rechtsberatung
Wie der Rechtsstaat sich noch heute weigert, von den Nationalsozialisten geraubtes Recht zurückzugeben
Helmut Kramer
in: Betrifft Justiz, Heft 1/2004, S. 238 ff
Dass die unter nationalsozialistischer Herrschaft verübten Enteignungen und Besitzstandsverschiebungen noch lange Zeit nach 1945 aufrecht erhalten worden sind, hat sich inzwischen einigermaßen herumgesprochen. Man denke an die Raubgoldaffäre. Nahezu unbekannt sind Entrechtungen, die die Nationalsozialisten im sozialen Bereich vorgenommen hatten, im Rechtsstatus von Institutionen, die sich bis 1933 um die Rechte der Angehörigen sozialer Randgruppen kümmerten. Eine solche Art von Rechtsberaubung hatte das Rechtsberatungsgesetz (RBerG) von 1935 zur Folge.
Hinweisen auf die anrüchige Entstehungsgeschichte des RBerG wird immer wieder damit begegnet, mit der Streichung der antisemitischen Vorschrift in § 5 1. AVO („Juden wird die Erlaubnis nicht erteilt“) sei das Gesetz völlig entnazifiziert. Dieser Versuch, dem Gesetz Unbedenklichkeit zu attestieren, geht schon deshalb an der Realität vorbei, weil sich die Beseitigung der im Bereich der Rechtsberatung bis 1933 bestehenden Gewerbe- und Betätigungsfreiheit nicht allein gegen die Juden, sondern gegen alle politisch Missliebigen, insbesondere gegen alle aus ihren Berufen verjagten Juristen richtete. Übrigens hat der bundesdeutsche Gesetzgeber das NS-Gesetz noch verschärft, indem er die altruistische Rechtsberatung mit einem absoluten Verbot, also ohne die im Gesetz von 1935 noch vorgesehene Erlaubnismöglichkeit belegte, während er für einige kommerzielle Rechtsberater eine Erlaubniserteilung weiterhin ermöglichte.
Aber auch sonst führt das heutige Gesetz zu einer besonders schwerwiegenden Schlechterstellung der unentgeltlichen Rechtsberatung. Dazu muss man wissen, was die Verteidiger des RBerG geflissentlich verschweigen:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, hatten die Gewerkschaften, gemeinnützige Organisationen und in Form der öffentlichen Rechtsauskunft (ÖRA) die größeren Gemeinden ein Netz an Rechtsberatungsstellen aufgebaut, die allen Bürgern, insbesondere den sozial Schwachen unentgeltliche Rechtsberatung anboten. Schon im Jahre 1906 gab es 45 (im Jahre 1914: 1583) städtische Rechtsauskunftsstellen und 22 (1914: 158) Rechtsauskunftsstellen von Gemeinden, dazu zahlreiche weitere Beratungsangebote von Verbänden.
Im Jahre 1933/35 wurde diese Art von Rechtsberatung äußerlich nicht beendet. Zwar wurde mit der Zerschlagung der Gewerkschaften der gewerkschaftliche Rechtsschutz in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) überführt; fortan hatte die NSDAP mit ihren Untergliederungen das Monopol für unentgeltliche Rechtsberatung. Alle sozialen Organisationen wurden zu Unterorganisationen der NSDAP erklärt. So übernahm die Rechtsberatung in Fürsorgefragen die NS-Volkswohlfahrt, die Beratung im Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht die DAF. Damit fand die organisierte unentgeltliche Rechtsberatung aber keineswegs ihr Ende. Teilweise wurde die Rechtsberatung sogar noch ausgebaut. Geändert wurden „nur“ die Tendenz und Zwecksetzung der Beratung. Entsprechend der nationalsozialistischen Befriedungsideologie wandelte die NS-Rechtsbetreuungsstellen ihre Arbeit immer stärker von Beratung zur Befriedung, durch Problem-„Behandlung“ im Interesse der „Volksgemeinschaft“ und durch Abwehr solidarischen Handelns. Rechtshilfe versagt wurde immer, wenn sie sich mit nationalsozialistischen Grundsätzen nicht vereinbaren ließ, etwa wenn ein wegen gewerkschaftlicher oder kommunistischer Betätigung oder als „Nicht-Arier“ entlassener Arbeitnehmer sich gegen seine Kündigung wehren wollte. Aber – und das ist zum weiteren Verständnis wichtig – das System der unentgeltlichen Rechtsberatung wurde als solches von den Nationalsozialisten nicht angetastet. Deshalb wurde die Rechtsberatung der NSDAP und ihrer Unterverbände durch das RBerG ausdrücklich „nicht berührt“ (Art.3 § 1 Ziff.1 RBerG).
Es blieb der bundesdeutschen Justiz vorbehalten, die Rechtsberatung durch die sozialen Verbände zu beschneiden.
Anstatt nach dem Ende des NS-Regimes den gesamten Vorgang – Überführung der unentgeltlichen Rechtsberatung auf die NSDAP unter Alleinzuständigkeit der NSDAP für die Beratung – insgesamt rückgängig zu machen und der Verpflichtung zur Reinstallation des bis 1933 bestehenden Netzes von Beratungsstellen nachzukommen, begnügte man sich nach Kriegsende mit der Tatsache, dass es die NSDAP nicht mehr gab. Man sah einfach Art.1 § 1 Nr. 1 RBerG im Wesentlichen als gegenstandslos an. In dem geistigen Trümmerfeld, das die Nationalsozialisten insbesondere im Rechtsbereich hinterlassen hatten, „vergaß“ man einfach, die Rechtsberatung wieder in die Hände der bis 1933 Rechtsberatung praktizierenden Organisationen zurückzugeben. Nicht einmal die Gewerkschaften wurden wieder voll in ihren alten Status eingesetzt. Die Rechtsberatung durch die Gewerkschaften, die von 1890 bis 1933 eine alle Lebensinteressen der Arbeiter abdeckende Beratung und Vertretung angeboten hatten, blieb gemäß Art.1 § 7 RBerG auf den Bereich des Arbeits- und Sozialrechts unter Zuständigkeit allein auf ihre Mitglieder begrenzt.
Ebenso unterblieb es, die anderen bis 1933 unentgeltliche Rechtsberatung ausübenden Institutionen wieder in den Rechtsstatus einzusetzen, dessen sie zugunsten der NSDAP beraubt worden waren. So blieb nach einer jahrzehntelangen, von manchen Anwaltsvereinen noch heute aufrechterhaltenen Gesetzinterpretation des Art. 1 § 7 RBerG das Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung auch gegenüber den karitativen Organisationen (allgemeine Wohlfahrtsverbände) über das Jahr 1945 hinaus bestehen. Nur in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg ist gemäß § 14 Beratungshilfegesetz die öffentliche Rechtsberatung erhalten geblieben. Der Versuch, durch eine der Normkategorie nach schwer einzuordnende „Vereinbarung“ mit dem Bundesjustizministerium (wiedergegeben bei Heinold, in:nfo also 2002, S. 12) den Status der Verbände zu verbessern, hat keine ausreichende Klarstellung gebracht, wie die immer wieder neuen juristischen Attacken von Anwaltsvereinen belegen.
Soweit die mit dem RBerG befassten Politiker und Juristen überhaupt nachgedacht hatten, kann man von einem genialen Kunstgriff sprechen, mit dem die Apologeten des RBerG das Anwaltsmonopol nach 1945 ausgebaut haben, weit über die Rechtssituation vor 1933 hinaus. Indem man gemäß den Alliierten Kontrollratsgesetzen in Art. 1 § 3 Nr. 1 RBerG die Worte „NSDAP“ usw. strich, hatte man das eine getan, nämlich das NSDAP-Monopol zu beseitigen, hatte aber das andere unterlassen, nämlich in der Konsequenz entweder das gesamte NS-Rechtsberatungsgesetz insgesamt aufzuheben oder – durch entsprechende Ergänzung des Art.1 § 7 RBerG – das den bis 1933 arbeitenden Rechtsberatungsstellen und ihrer Klientel angetane Unrecht wiedergutzumachen.
Eine mühelosere Gesetzesänderung zugunsten einer Interessengruppe – ohne Parlamentsbeschluss, ohne jegliche Lobbyarbeit – mit einschneidenden Folgen, nämlich entgültiger Verschiebung der Rechtsberatungsbefugnisse hat es sonst wohl noch nie gegeben. Um die gewünschte Gesetzesfolge zu erreichen, genügte es, an die Stelle der Worte „NSDAP...“ einige unscheinbare Pünktchen zu setzen. Ansonsten brauchte man nur die für eine verfassungsmäßige Gesetzesanwendung unverzichtbaren geschichtlichen Zusammenhänge zu unterdrücken.
In der Gesetzessammlung von Schönfelder und in der Sammlung des Bundesrechts (BGBL. III 303-12-1) findet sich wenigstens noch die unauffällige Fußnote „Die ausgelassenen Worte betrafen die NSDAP und ihre Gliederungen“. In dem Kommentar von Rennen/Caliebe (RBerG, München 2001) sucht man auch nach einem solchen Hinweis ebenso vergeblich wie nach einer Erwähnung der öffentlichen Rechtsberatung vor 1933. So braucht sich der Kommentarbenutzer keine weiteren Gedanken zu machen. Er erinnert sich vielleicht an ähnliche noch heute mit Pünktchen versehende NS-Gesetze und stellt sich die selbstverständliche Funktionsnachfolge vor (z. B. anstelle „Deutsches Reich“: „Bundesrepublik“ oder anstelle von „Reichskanzler“: „Bundeskanzler“).
Der Rechtsbegriff „Funktionsnachfolge“ war sonst übrigens in aller Munde; unter Berufung auf eine Funktionsnachfolge der Bundesrepublik nach dem Deutschen Reich versuchten, im wesentlichen mit Erfolg selbst SS- und Gestapoangehörige über ihre Ruhestandsbezüge hinaus nun den vollen Beamtenstatus zurückzuerlangen. An die Konsequenz einer Funktionsnachfolge (nach der NSDAP) der Arbeiterwohlfahrt und der anderen rechtsberatenden Organisationen hat niemand gedacht. Die stattdessen eingeführte Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz vom 18.6.1980 bietet keine ausreichendes Äquivalent. Die geringe Beratungsgebühr bietet keinen ausreichenden Anreiz für anwaltschaftliches Engagement. Allein der mit der Antragstellung verbundene bürokratische Aufwand übersteigt meist die Beratungsgebühr von 23 Euro.
Heute, 59 Jahre nach dem Ende des Unrechtstaats wird den Wohlfahrtsorganisationen der den ihnen von den Nationalsozialisten geraubte Rechtsstatus mit arbeitsaufwändigen juristischen Attacken der Anwaltschaft noch immer streitig gemacht1. Kirchlichen Institutionen, die dazu bis 1933/35 selbstverständlich berechtigt waren, wird verboten, Hilfsbedürftigen im sozialhilferechtlichen Widerspruchsverfahren Beistand zu leisten (OVG Münster, NJW 2002, S. 1442). Nicht einmal ein Sozialhilfeträger – hier: ein Sozialamt, eine Stadt – darf im eigenen Interesse einen Sozialhilfeempfänger bei der Durchsetzung einer Versicherungsberechtigung gegenüber der Krankenkasse unterstützen (LSG Rheinland-Pfalz, in Sammlung Breithaupt 2002, S. 666). Das BVerfG hat im Jahre 1989 das von einer Rechtsanwaltskammer erwirkte Verbot einer von engagierten Jurastudenten gegründeten, unentgeltliche Rechtsberatung anbietenden „Studentische Selbsthilfe e. V.“ mit der Unterstellung einer von einem „nichtfachmännischen Rechtsrat“ ausgehenden Gefahr gebilligt (nichtveröffentlichter Beschluss vom 26.02.1989 – 1 BvR 525/89).
Die „wissenschaftliche Nacht“ (Kleine-Cosack, ljw 2000, S. 1593), unter deren Verdunkelung zum Vorteil der Berufsgruppe der Rechtsanwaltschaft etwas geschah, was man getrost als eine Art juristische Veruntreuung bezeichnen könnte, beginnt sich allmählich aufzuhellen. Aber ob die vom Deutschen Juristentag zur Vorbereitung des DJT vom 21.-24. September 2004 mit den Rechtsfragen zur Novellierung des RBerG beauftragten Sachverständigen (Prof. Henssler und Prütting, beides Lobbyisten von Format) detailliert auf die rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge eingehen werden? Nach ihren bisherigen Stellungnahmen zum RBerG lässt sich vermuten, dass das nur beiläufig geschehen wird. Schließlich haben sich die beiden Direktoren des mit Mitteln der Hans-Soldan-Stiftung finanzierten Instituts für Anwaltsrecht der Universität Köln seit jeher fleißig bei der Tabuisierung des RBerG hervorgetan. Jedenfalls können sie auf das in der Juristenausbildung allgemein gepflegte Desinteresse der Juristen an rechtsgeschichtlichen Zusammenhängen bauen.
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Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Brühl, info also 1998 S. 3 ff; Heinhold, in: Verwaltungsrecht für die Anwaltspraxis 2001, S. 145 ff und Heinhold in: info also 2001, S. 197 ff; 2002, S. 12 ff; Hammel, sozialmagazin 1998, S. 38 ff. – vgl. auch OLG München, ndv-rd 2000, S. 47 ff, m. Anm. Busse; LG Stuttgart, in: Evang. Jugendhilfe, Heft 4/2001, S. 1 ff, m. Anm. Lehmann. – Zur Unzulässigkeit einer rechtsbetreuenden Tätigkeit durch Verbrauchervereine: OLG Köln, BRAK-Mitt. 1997, 217