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Luxusbahnhof und Todeszüge

Luxusbahnhof und Todeszüge –  Auseinandersetzung um eine Ausstellung

 

von Peter Weber

 

 

 

Am 26. Mai 2006 wurde der größte Bahnhof Europas, der Hauptbahnhof Berlin, eröffnet. Auf dem mit edlen chinesischen und österreichischen Granitplatten gepflasterten Weg des „Gleispalastes“ (Tagesspiegel), der „neuzeitlichen Pyramide“ (SPIEGEL) zur Austernbar wird den täglichen 300 000 Besuchern Unangenehmes aus der Geschichte des Unternehmens Bahn AG erspart.

 

 

Schlüsselposition im Vernichtungsprozess

 

 

Im Vernichtungsprozess des europäischen Judentums kommt dem Vorläuferbetrieb der Bahn AG, der Deutschen Reichsbahn, eine Schlüsselstellung zu. „Ohne die Beteiligung der Deutschen Reichsbahn wären diese Massenmorde wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen. Man konnte und wollte ja nicht in jeder Stadt, in Budapest oder irgendwo in Südungarn oder in irgendeinem der vielen kleinen Orte oder auch in mehr harmloseren Lagern solche Mord-Aktionen durchführen. Das wäre technisch gar nicht möglich gewesen und hätte außerdem zu einer unerhörten Verzögerung des gesamten Mordverfahrens geführt. Man wollte an bestimmten und dafür speziell eingerichteten Stellen morden. Zusammenfassend muss man also feststellen: Technisch hätte eine mangelnde Mitarbeit der Reichsbahn, etwa hinhaltendes Taktieren, zumindest zu erheblichen Verzögerungen geführt“ (Robert Kempner, zitiert nach Heiner Lichtenstein, Mit Sonderzügen in den Tod in FR v. 15.11.1982).

 

 

„Beförderungsbedingungen“

 

 

Die Bedingungen, unter denen die Bahn die Opfer zu den Vernichtungsorten  „beförderte“, waren unmenschlich. Die Menschen waren in Viehwagen gepfercht, die Fensterschlitze verplombt oder mit Stacheldraht versperrt. Anfangs wurden pro Güterzug bis zu 1000 Menschen transportiert. Als im Winter 1942 kurz vor dem Ende von Stalingrad der Transportraum für die Wehrmacht knapp wurde, erhöhte die Bahn die Zahl auf 2000 „Passagiere“, bei kürzeren Strecken sogar auf 5000, so dass einer Person etwa ein Viertelquadratmeter zur Verfügung stand. Für Eimer zur Verrichtung der Notdurft blieb kein Platz. Wegen des Überlastungsgewichts sank die Fahrtgeschwindigkeit, so dass ein Deportationszug für 400 km bis zu 23 Stunden brauchte. Weil Wehrmachts- und Materialtransporte Vorfahrt hatten, mussten die Züge stundenlang, manchmal sogar tagelang auf Abstellgleisen warten - bei klirrenden Frost genau so wie bei glühender Hitze. So erreichten manche Züge ihr Ziel mit mehr Toten als Lebendigen. Die Leichen befanden sich dann zuweilen schon im Verwesungsprozess. Die Reichsbahn ordnete deshalb auch alsbald nach jeder Fahrt nicht nur die Reinigung, sondern „erforderlichenfalls“ auch die Entwesung der Waggons an.

 

 

Profitables Geschäft

 

 

Für die Reichsbahn waren die Transporte ein gutes Geschäft. Den mit der SS ausgehandelten Preis für die Viehwagenzüge wurde der Beförderungstarif für Reisen in Dritter-Klasse-Personenwagen zugrundegelegt: 4 Reichspfennig pro Person und Kilometer (für Soldaten musste die Wehrmacht nur 1,5 Pfennig zahlen); befanden sich mindestens  400 Menschen im Zug, erhielt die SS einen 50%igen Preisnachlass. Für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren wurde die Hälfte gezahlt, Kinder unter 4 Jahren fuhren kostenlos. Der Gewinn war beträchtlich. Transportierte die Bahn doch von Oktober 1941 bis Oktober 1944 etwa 3 Millionen Juden in den Vernichtungsraum im Osten. Trotz ständiger Hindernisse und Verzögerungen infolge der sich zuspitzenden prekären Kriegsentwicklung wurde nicht ein einziger Jude wegen fehlender Transportmöglichkeiten verschont.

 

 

In aller Öffentlichkeit

 

 

Die Organisation war unkompliziert. Brauchte die SS Deportationskapazitäten, stellte die Bahn Fahrplankonferenzen zusammen, auf denen die Zugfolge, die anzufahrenden Bahnhöfe und schließlich die anzulaufenden Vernichtungsorte festegelegt wurden. Die Umsetzung geschah in aller Öffentlichkeit. Nach Fahrplan passierten die mit Menschen vollgestopften Viehwagen z.B. auf der Strecke Saarbrücken/Auschwitz am helllichten Tag mit Zwischenaufenthalten u.a. die Bahnhöfe in Mannheim, Frankfurt a.M., Fulda, Erfurt, Neiße und Kattowitz. Dort  waren  sie für jedermann als  Judentransporte kenntlich durch auf den Waggons befindliche Kennzeichen wie „D“ für David oder „pJ“ für polnische Juden.

 

 

Geschäftspartner

 

 

Cheforganisator war seit dem 1. Juni 1942 der Albert Speer nahe stehende stellvertretende Generaldirektor der Reichsbahn Dr. Albert Ganzenmüller, zugleich Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium, mit 37 Jahren jüngster Staatsekretär überhaupt im NS-Staat. Seiner direkten Kontrolle unterstanden u.a. die Verkehrs- und Tarifabteilung sowie die Betriebsabteilung, die die Zugstrecken festlegte. Ganzenmüllers „Geschäftspartner“ bei der SS war der Chef von Himmlers persönlichem Stab, Karl Wolff, von Himmler liebevoll „Wölffchen“ genannt. Zwischen beiden entwickelte sich eine herzliche Beziehung. So bat beispielsweise Wolff im Sommer 1942 Ganzenmüller, für den Transport der Warschauer Juden in die Vernichtungslager Sonderzüge zur Verfügung zu stellen. Am 28. Juli antwortete Ganzenmüller: „Seit dem 22. Juli fährt täglich ein Zug mit 5000 Juden von Warschau...nach Treblinka, außerdem zweimal wöchentlich ein Zug mit 5000 Juden von Przemyl nach Belsec.“ „Wölffchen“ bedankte sich am 13. August überschwänglich: „Lieber Parteigenosse Ganzenmüller! Im Namen des Reichsführers SS danke ich Ihnen vielmals für Ihren Brief....Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit 5000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka - und so weiter - fährt...“ In den zwei Wochen zwischen dem Briefwechsel wurden 70 000 Warschauer Juden in das Vernichtungslager Treblinka gebracht.

 

 

Justizielle Verantwortung?

 

 

Nach dem Krieg sollte im Rahmen der Nürnberger Prozesse ursprünglich auch ein Reichsbahnprozess stattfinden. Dazu ist es nicht gekommen. Das vom amerikanischen Militärtribunal gesammelte Material wurde den deutschen Behörden übergeben, die aber nichts mehr veranlassten. Robert Kempner, Stellvertreter des Chefanklägers Robert Jackson im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, hätte Ganzenmüller schon gern damals auf die Anklagebank gebracht. Das wäre durchaus möglich gewesen, wenn Kempner gewusst hätte, dass Ganzenmüller seit dem 20. Mai 1945 in einem amerikanischen Internierungslager saß, aus dem er Ende 1947 fliehen und sich nach Argentinien absetzen konnte. Zur Jahreswende 1953/54 kehrte er nach Deutschland zurück und versuchte alsbald - wenn auch vergeblich - seine Pension als Staatsekretär einzuklagen. Andere, wie der Fahrplanreferent für den Bereich Krakau, zu dem auch Auschwitz gehörte, Erich Richter, setzten nach Kriegsende ihre Karriere bei der Bahn fort. Der  nunmehr zum Bundesbahn-Oberrat avancierte Richter, als Zeuge in einem Ns-Prozess nach seiner Meinung zu dem Schicksal der in seinen Bereich deportierten Juden befragt, äußerte zynisch: „Ich dachte immer. Die Juden sollten nach dem Vorbild des Westwalls nun auch...einen Ostwall bauen.“  Der exzellente Fachmann Ganzenmüller wurde Leiter der Transportabteilung der Firma Hoesch in Dortmund, organisierte den Wiederaufbau des durch den Krieg erheblich beschädigten Transportsystems  der Weltfirma und trat nach 13 Jahren 1968 in den Ruhestand.

 

 

Inzwischen hatte sich die Justiz immerhin bequemt, gegen Ganzenmüller zu ermitteln wegen Beihilfe zu Mord und Freiheitsberaubung. Am 13.11.1969 wurde er verhaftet. Knapp zwei Monate später hob das Landgericht Düsseldorf den Haftbefehl auf und verweigerte mangels Tatverdacht (!) die Eröffnung des Hauptverfahrens. Nach Bemühungen  von Staatsanwaltschaft und den Nebenklägervertretern Robert Kempner und Friedrich Karl Kaul wurde die Anklage dann doch noch zugelassen. Von der Haft blieb Ganzenmüller gegen Stellung einer Kaution von 300 000 DM verschont. Am 10. April 1973 begann der Prozess. Ganzenmüller leugnete seine Verantwortung für die „Judentransporte“ und behauptete, von dem Vernichtungszweck der Transporte keine Kenntnis gehabt zu haben. Mit dem Briefwechsel aus dem Jahre 1942 zwischen ihm und „Wölffchen“ konfrontiert, bestritt er, den Brief diktiert und den Text gelesen zu haben. Die Unglaubwürdigkeit dieser Einlassung spiegelte sich im damaligen Medienecho (zitiert nach Heiner Lichtenstein, Im Namen des Volkes? Bund-Verlag 1984 S. 56) in FR („erhebliche Bedrängnis…durch die Konfrontation mit schwerwiegenden Indizien…“), FAZ („schon nach zwei Verhandlungstagen mit dem Rücken an der Wand…“)  und Stuttgarter Zeitung („eine nahezu lückenlose Indizienkette…, die den bisher stets leugnenden Angeklagten schwer belastet“) wider. Gleichwohl wurde Ganzenmüller nicht verurteilt. Am 4. Mai 1973 stellte das Landgericht das Verfahren vorläufig ein, nachdem ihm Verhandlungsunfähigkeit wegen „Angina pectoris“ bescheinigt worden war. 1976 erfolgte die endgültige Einstellung und Rückzahlung der Kaution. Ganzenmüller zog sich nach Bayern zurück, wo er am  20. März 1996 in München starb, knapp 23 Jahre nach der de-facto-Beendigung des Prozesses aus Krankheitsgründen.

 

 

„Gleispalast“ und Vergangenheit

 

 

Im Gegensatz zur französischen Eisenbahngesellschaft SNCF haben sich weder der Vorgängerbetrieb Deutsche Bundesbahn noch die Bahn AG auf ihren Bahnhöfen ihrer dunklen Vergangenheit gestellt. SNCF hat eine von Beate und Serge Klarsfeld erstellte Ausstellung über die Deportation jüdischer Kinder aus Frankreich mit dem Titel „11 000 jüdische Kinder – Mit der Reichsbahn in den Tod“ auf 20 größeren Bahnhöfen in Frankreich gezeigt. Der Aufforderung, dem französischen Beispiel zu folgen, ist die Bahn nicht gefolgt, weil dafür weder finanzielle noch personelle Mittel zur Verfügung stünden. Die Begründung erstaunt.  Nach Medienberichten erzielte die Bahn 2005 einen  Gewinn von 448 Millionen Euro und erwartet für die Jahre 2006 und 2007 eine Gewinnsteigerung von 15 bis 20 Prozent. Über die endgültigen Kosten des Berliner Bahnhofsbaus hüllt sich die Bahn noch in Schweigen. Der „Tagesspiegel“ schrieb von einem „700-Millionen-Euro-Schmuckstück“.

 

 

Im Vorfeld der Eröffnung des Hauptbahnhofs sind verschiedene Organisationen (z.B. „Gegen Vergessen Für Demokratie“, ver di, VVN)  und Einzelpersonen  erneut an die Bahn herangetreten und haben sie gebeten, die Ausstellung gleichzeitig mit der Inbetriebnahme des Hauptbahnhofs auf dessen Gelände zu eröffnen und sie dort mindestens bis zum Ende der Fußballweltmeisterschaft zu zeigen. Auf Initiative unseres Mitglieds Reinhard Strecker hat sich das Forum Justizgeschichte an der Kampagne beteiligt. Die Bitte des Forum (An Mehdorn 21.02.06) lehnte die Bahn ab und begründete das mit dem Verhalten der Ausstellungsinitiatoren Beate und Serge Klarsfeld (Antwort Bahn 06.03.06). Später wurde bekannt, dass sich auch Bundesverkehrsminister Tiefensee für eine Präsentation der Ausstellung auf dem Gelände der Bahn einsetzt. Wir haben den Minister darauf um Unterstützung unseres Anliegens gebeten (Nachfrage 03.04.06). Er erwiderte, dass der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG Helmut Mehdorn und die Initiatoren der Ausstellung seinen Vorschlag,  die Ausstellung zunächst im Bundesverkehrsministerium zu zeigen,  positiv aufgenommen hätten (Anfrage Tiefensee).

Die Bahn  AG selbst ließ auf unsere Nachfrage (Antwort Tiefensee) mitteilen, dass nunmehr Gespräche mit dem Zentralrat der Juden begonnen hätten, um bis Ende Mai 2006 ein Konzept für die Ausstellung zu erarbeiten. Das Ergebnis bleibt abzuwarten. Zweifel bleiben bestehen. Nach einem Bericht des Deutschlandfunks vom 12. Juni 2006 hatten bis dahin noch keine Gespräche mit den Machern der Ausstellung stattgefunden. Wenn auch das ursprüngliche Anliegen des Forum (Ausstellung auf dem Hauptbahnhof gleichzeitig mit seiner Eröffnung), nicht erreicht wurde, so bleibt derzeit immerhin positiv anzumerken, dass sich die Bahn dem öffentlichen Druck wenigstens insoweit gebeugt hat, als sie ihre fundamentale Ablehnung gegenüber den Ausstellungsinitiatoren aufgegeben hat

 

 

Quellen:

 

Heiner Lichtenstein, Mit Sonderzügen in den Tod, Frankfurter Rundschau v. 15.11.1982

 

Ders., Im Namen des Volkes? Bund-Verlag 1984

 

Israel Gutman (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust, Piper 1998: „Ganzenmüller“, „Reichsbahn“

 

Ernst Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, Fischertaschenbuch 16048