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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ...

... der Tagungen der Deutschen Richterakademie zur juristischen Zeitgeschichte

Helmut Kramer

am 11.08.2005 in Wustrau gehaltener Vortrag von Helmut Kramer: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Tagungen der Deutschen Richterakademie zur juristischen Zeitgeschichte

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Tagungen der Deutschen Richterakademie zur juristischen Zeitgeschichte

Oder: Was unabhängige Richter nicht wissen sollten*

Bei dem, was ich heute vortrage, handelt es sich um selbst erlebte und mitgestaltete Geschichte. Deshalb werde ich mich bemühen, möglichst nur die Fakten sprechen zu lassen.

Die Geschichte dieser Tagung, überhaupt aller Tagungen der Deutschen Richterakademie zur juristischen Zeitgeschichte, führt auf die Jahre 1980/83 zurück, genauer: in das Jahr 1979. Im Jahr 1979 gab es in vielen deutschen Gerichtsorten Festveranstaltungen unter dem Titel „100 Jahre OLG Köln, OLG München, OLG Frankfurt“ usw. Die bei weitem umfangreichste Veranstaltungsreihe organisierte der Präsident des OLG Braunschweig. Es gab genau 30 Einzelveranstaltungen zur Braunschweiger Justizgeschichte, aber: darunter war kein einziger Vortrag zur NS-Justiz. Als ich den Präsidenten, dessen Mitarbeiter ich damals war, auf dieses Defizit aufmerksam machte, sagte der Genosse Wassermann wörtlich: „Dafür sind unsere Richter noch nicht reif genug“.

Gemeinsam mit einigen wenigen Richterkollegen und Kolleginnen habe ich kurz darauf eine eigene Vortragsreihe veranstaltet mit dem Titel „Braunschweig unterm Hakenkreuz“, darunter zwei Vorträge zur Justiz von 1933

-1945. Der Widerhall war unerwartet und überwältigend groß. Wir hatten mit allenfalls 30 bis 40 Zuhörern gerechnet. Schon am ersten Abend kamen aber von der Polizei geschätzte ungefähr 1600 Zuhörer (im Städtischen Museum Braunschweig). Wir mussten deshalb fast jeden Vortrag am jeweiligen Folgetag wiederholen und sind dazu in die Braunschweiger Stadthalle umgezogen. Nur bei den meisten Richterkollegen am Ort erregte die Veranstaltung großes Befremden.

Nach dem letzten Vortrag haben wir uns in kleinem Kreis zusammengesetzt und überlegt, wie es weitergehen soll. Wir hatten die Programme der Deutschen Richterakademie durchgesehen. Darin hatte die Rechtsgeschichte durchaus einen Platz, mit Vorträgen etwa „Zur Geschichte des Oberappellationsgerichts Celle von 1711-1866“ oder zu Eyke von Repgow. Die Jahre der Weimarer Republik und vor allem die Zeit 1933-1945 blieben dagegen sorgsam ausgeklammert. In den Jahren ab 1949 haben in Deutschland schätzungsweise an die 2000 Fortbildungsveranstaltungen für Richter und Staatsanwälte stattgefunden. Keine einzige davon hat sich auch nur in einem einzigen Vortrag mit der NS-Justiz und ihren Ursachen befasst. Es spricht nicht gerade für die Phantasie der damaligen Fortbildungsreferenten und der damaligen Programmkonferenz der Richterakademie, dass dort niemand ein Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit der juristischen Zeitgeschichte erkannt hat. Vor allem die NS-Justiz war noch nach mehr als 35 Jahren nach ihrem Ende ein Tabu. Wir – d. h. die Fachgruppe Richter und Staatsanwälte in der Gewerkschaft ÖTV – haben deshalb in einer Resolution vom März 1980 gefordert, die NS-Justiz endlich zum Gegenstand der Juristenausbildung und Fortbildung zu machen. Die Entschließung schloss mit den Worten: „Wir warten auf die Reaktion des (niedersächsischen) Justizministers.“

Und der Justizminister, genauer: der damalige Fortbildungsreferent, ein Jurist mit Selbstbewusstsein, reagierte. Er hatte gemeint, dass man sich so etwas ohne Nachteile für das eigene Fortkommen jetzt leisten konnte. Auf seinen Vorschlag beschloss die Programmkonferenz für das Jahr 1983 eine Tagung zur NS-Justiz.

Dann passierte etwas Ungewöhnliches: Dem Staatssekretär im niedersächsischen Justizministerium, Friedrich Rehwinkel, missfiel das Projekt. Dr. Endler, so hieß der damalige Referent, musste im zweiten Durchgang der Programmkonferenz die Tagung zurückziehen und durch eine Tagung „Kunst und Recht“ ersetzen. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, werden noch sehen, dass es gerade bei dem Thema juristische Zeitgeschichte gelegentlich auch später zu massiven Eingriffen in die Planung von Fortbildungsreferenten gekommen ist.

Nun begann das Bohren harter Bretter von neuem. Es blieb nichts anderes übrig als ein nochmaliger Gang an die Öffentlichkeit. Und es dauerte lange und kostete viel Mühe, bis die Presse sich für ein scheinbar so entlegenes Thema interessierte. Aber schließlich stand es in allen großen Zeitungen. Selbst die Londoner Times stellte die Frage, warum die deutschen Justizminister den Richtern und Staatsanwälten den Blick in die Vergangenheit noch immer nicht erlauben wollten.

Der damalige Justizminister (Schwind), unterstützt von seinem Staatssekretär, blieb aber standfest. Erkundigungen der Presse und eine Landtagsanfrage beantwortete er so: Das schwierige Thema bedürfe wegen der zu erwartenden Öffentlichkeitswirkung sorgfältiger Vorbereitung und dafür reiche die verbleibende Zeit (seit Beginn der Planung im Ministerium immerhin mehr als zweieinhalb Jahre!) nicht aus. Auch gebe es bei der begrenzten Anzahl von Tagungen und der Knappheit der Haushaltsmittel vordringlichere Themen, mit denen sich die Richter in ihrer Fortbildung befassen müssten.

Auch die Programmkonferenz, genauer: die Landesjustizverwaltungen (denn: Fortbildungsreferenten genießen keine richterliche Unabhängigkeit) zeigten sich solidarisch. Geschlossen machten sich alle anderen Bundesländer (sowohl die A- wie auch die B-Länder) die Absagebegründung des niedersächsischen Justizministeriums zu eigen. Schließlich brach das BMJ aus der Abwehrfront aus. Der damalige Bundesjustizminister Schmude (SPD) – es war die Zeit kurz vor der „geistig-moralischen Wende“ in Bonn – distanzierte sich von dem niedersächsischen Justizministerium und erklärte sich bereit, notfalls die Tagung selbst zu übernehmen. Erst jetzt – und nach einem Ministerwechsel in Hannover im August 1982 (Werner Remmers) – schwenkte das niedersächsische Justizministerium um und kündigte die Tagung für Ende Dezember 1983 an. Die Programmkonferenz musste im Umlaufverfahren entscheiden, damit die Tagung gerade noch zum Torschluss 1983 (11.-18. Dezember 1983) in Trier stattfinden konnte.

Damit war die Sache entschieden, oder vielmehr: es hatte diesen Anschein. Doch wurde der – um ein Wort von Bert Brecht zu gebrauchen – „Kampf um die Vergangenheit“ fortan nicht über das „ob“, sondern über das erlaubte Maß der Aufarbeitung (nämlich über die inhaltliche Tagungskonzeption) ausgetragen.

Das zeigte sich bei der ersten Tagung im Dezember 1983 ganz deutlich. Selbstverständlich hatte man bei der Referentenauswahl mit drei Ausnahmen die von uns vorgeschlagenen renommierten Wissenschaftler, die durch profunde Veröffentlichungen ausgewiesen waren, nicht berücksichtigt. Statt dessen ließ man auf der ersten Tagung zwei Laien vortragen, die weder durch irgendeine Veröffentlichung noch sonst zur NS-Justiz hervorgetreten waren: Der Präsident des OLG Celle, Dr. Harald Franzki und sein Vizepräsident. Dr. Harald Franzki räsonnierte in seinem Vortrag darüber, dass in Auschwitz gar nicht so viele Juden umgekommen seien, wie der KZ-Kommandant Höss in seiner Prahlsucht (2 Millionen) behauptet habe. Auch habe man die Insassen des Lagers Bergen-Belsen und die sowjetischen Kriegsgefangenen nicht absichtlich verhungern lassen. Es habe vielmehr an Versorgungsschwierigkeiten gelegen. Und im übrigen müsse man bei der Frage nach der Schuld des deutschen Volkes die Empörung über den Versailler Friedensvertrag berücksichtigen. Franzki bedauerte auch, dass Rudolf Heß nun schon mehr als die Hälfte seines Lebens in Haft sei.

Selbst bei der Auswahl der Tagungsteilnehmer war man darauf bedacht, Störenfriede fernzuhalten. In den Akten des niedersächsischen Justizministeriums findet sich folgende Notiz:

Dr. Schmidt-Hieber(das war der damalige Leiter der Richterakademie in Trier) teilt mit: Dr. Franzki hat mir gesagt, Ri AG Vultejus (das war der damalige Vorsitzende der niedersächsischen Fachgruppe Richter und Staatsanwälte – Anm. H. K.) habe 2 Tage Sonderurlaub für eine Vorstandsitzung der ÖTV in Trier beantragt; mit seinem (unangemeldeten) Erscheinen müsse gerechnet werden. Er wäre ggf. bereit, das Hausrecht dahin auszuüben, dass dem Richter (und etwaigen weiteren Personen) das Betreten der Richterakademie untersagt werde. Die Sache soll Herrn Minister und Herrn Staatsekretär vorgetragen werden.“

„Was die weiteren Personen“ angeht: Ich hatte mich als einziger für den dem OLG Braunschweig zuteilten Platz beworben. Unter Übergehung der Mitbestimmung, also des Bezirksrichterrates, schickte man aber einen Kollegen nach Trier.

In den folgenden Jahren (bis 1990) änderte sich nicht viel. Die Zeit nach 1945, also die Frage nach der strafrechtlichen und personellen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz blieb praktisch ausgeklammert. Immerhin verzichtete man auf den OLG-Präsidenten Franzki. Renommierte Wissenschaftler wie Profes-

sor Ingo Müller (Autor von „Furchtbare Juristen“) galten als persona ingrata. Sieht man von dem pauschalen und beschönigenden Vortrag des Präsidenten Wassermann ab – letztlich sei die Aufarbeitung doch ganz zufriedenstellend verlaufen – blieb es aber bei dem Schweigekonsens über die Zeit nach 1945.

Zu einer Korrektur kam es erst ab 1991: Von nun an, nach Bildung einer rot-grünen Koalition in Niedersachsen, wurde ich zum Tagungsleiter bestellt, durfte ich also das Ministerium bei der Tagungsplanung beraten. Der Tagung zur NS-Justiz wurde eine zweite Tagung hinzugefügt, die Tagung „Zwei deutsche Justizvergangenheiten“. Ab 1998 kam die Tagung „Zur Justizgeschichte der Bundesrepublik“ hinzu.

Irgendwelche Einwände gegen die neue Tagungskonzeption kamen nicht. Rückmeldungen der Teilnehmer ermunterten vielmehr, auf dem eingeschlagenen Wege fortzufahren. Die begehrten Tagungen waren stets weit überbucht.

Vielleicht gerade deshalb wurden die Veranstaltungen argwöhnisch beobachtet. Die dritte Tagung (Justizgeschichte der Bundesrepublik) wurde durch eine Weisung des hessischen Justizministers im Jahre 2000 verboten. Seitdem gibt es nur noch zwei Tagungen (die Tagung zur NS-Justiz und die Tagung zur deutschen Justizgeschichte nach 1945).

Zu einem interessanten Zwischenspiel kam es im Jahre 1996 auf der niedersächsischen Landesebene. Damals wurde das, was sich jetzt für den Bereich Richterakademie ereignet hat, vorübergehend in Niedersachsen vorweggenommen. In Niedersachsen hatten und haben wir jährlich eine Richtertagung zur juristischen Zeitgeschichte und Seminare für Referendare. Aus organisatorischen Gründen ist für diese Tagungen aber nicht das Justizministerium, sondern die Landeszentrale für politische Bildung zuständig. Dort herrschten, auch unter der SPD-Regierung, ein Leiter und ein Abteilungsleiter (Dr. Uwe Dempfwolff), mit Schlagseite zum rechtskonservativen Lager und mit geschichtspolitischen Intentionen. Mit Hilfe einer gezielten Geschäftsverteilungsmanipulation machten sie jenen Dr. Dempfwolff zuständig. Ihn darf man aufgrund eines von ihm angestrengten, aber gescheiterten einstweiligen Verfügungsverfahrens als einen „Bekennenden Vertreter der Neuen Rechten“ bezeichnen. Sofort ersetzte er fachlich so ausgewiesene Referenten wie Prof. Ingo Müller und Klaus-Detlev Godau-Schüttke durch Leute seiner eigenen Couleur. Zu seinen Lieblingsreferenten zählt er z. B. Leute, die die Weizsäcker-Rede zum 8. Mai 1993 „zu den widerwärtigsten Begleiterscheinungen des Jahres 1993 zählen“. Mit solchen Anschauungen konnten und wollten wir natürlich nicht mithalten. Und selbstverständlich war jemand wie ich als Tagungsleiter (der von Dr. Dempfwolff zu verantwortenden Tagungen) untragbar. Das dauerte mehrere Jahre, bis schließlich Dr. D. das Maß überzog. Mit mehreren Dienstvergehen (unter anderem durch Tagungen, auf denen er nicht die Verbrechen der Wehrmacht, sondern die Verbrechen an der Wehrmacht vor Hunderten von Bundeswehroffizieren und anderen Ausbildern vortragen ließ). Das und andere Vorfälle führten zu einem Disziplinarverfahren gegen ihn.

Die Tagungen hier in Wustrau sind bis heute völlig unangefochten geblieben. Das Ansehen der Tagungen und die Nachfrage nach ihnen ist sogar noch angestiegen. In der Bewertung der Teilnehmer erhielten die Tagungen 8,2 (Tagung im März 2005) und 8,6 (Tagung im August 2005) Punkte.

Nun ist es ein frommer Wunsch, dass die Richterfortbildung von den allgemeinen politischen Mehrheitsverhältnissen und erst recht von der Laune eines Ministers oder einer Justizministerin unabhängig ist. Es gibt (leider) keinen politikfreien Raum in der Justiz.

Ähnlich wie die Personalauswahl, insbesondere die Beförderungspraxis, gehört auch die Art der Richterfortbildung zu den Steuerungsinstrumenten der Justizverwaltung. Auch die Vergangenheitsbetrachtung schwebt nicht gewissermaßen losgelöst über den Wassern.

Nichts bereitet der Justizverwaltung größeres Unbehagen als das Bedürfnis der Richter und Staatsanwälte, also der Nutzer der Richterakademie, etwas über die Arcana der Richterakademie zu erfahren und über die Konzeption der Fortbildungsveranstaltungen zu diskutieren. Sich vielleicht Gedanken zu machen auch über die vom sonstigen Bereich der gesamten Erwachsenenbildung abweichende Merkwürdigkeit, dass die Richterfortbildung von oben und zwar von der Justizverwaltung verordnet werden kann, mit Zuständigkeit von alles andere als mit Wissenschaftsfreiheit ausgestatteten Fortbildungsreferenten, die in den meisten Bundesländern nicht einmal mit planmäßigen Ministerialbeamten besetzt sind, sondern mit für wenige Jahre „zur Erprobung“ abgeordneten FortbildungsreferentInnen besetzt sind. So ist auch die Programmkonferenz der Richterakademie nichts anderes als der verlängerte Arm ministerieller Politik. Dabei hat die Richterfortbildung indirekt sehr viel mit richterlicher Unabhängigkeit und richterlichem Berufsverständnis zu tun.

Norbert Frei schreibt in seinem Buch „Vergangenheitspolitik – Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“ in der Einleitung:

„Die Frage, wie mit der NS-Vergangenheit umzugehen sei, ist älter als die Bundesrepublik und von jeher umstritten. Auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wird sie kein bisschen akademisch. Das spricht für ihre anhaltende politische Bedeutung, und in der Tat führt sie mit in die Debatte über das Selbstverständnis eines Staates, der sich seit seiner Gründung nicht zuletzt als Antwort auf die Herausforderung des Nationalsozialismus begreift.“

An die Stelle der Worte „Selbstverständnis eines Staates“ braucht man nur die Worte „Selbstverständnis der Justiz“ oder „richterliches Selbstverständnis“ zu setzen, um zu kennzeichnen, warum die Tagungen zur juristischen Zeitgeschichte seit jeher für die Justizverwaltung ein Politicum waren.

Der Historiker Michael Stürmer, langjähriger Berater von Helmut Kohl, hat Helmut Kohl einmal empfohlen:
„In einem geschichtslosen Land (gewinnt derjenige) die Zukunft, der die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“

Man braucht den damit erhobenen Anspruch auf Deutungshoheit bei der Vergangenheitsaufarbeitung nur auf die Richterfortbildung zu übertragen. Anscheinend werden manche Leute in Politik und Justizverwaltung von der Sorge umgetrieben, von den Tagungen könne ein Geist des Aufruhrs in der Justiz ausgehen, gar mit der Aufforderung, gegenüber Konformismus und Mainstream-Mentalität sich des eigenen Verstandes zu bedienen, womöglich der richterlichen Unabhängigkeit Gebrauch zu machen.

*Leicht überarbeiteter Vortrag vom 11. August 2005 in Wustrau. Weil die Direktorin der Richterakademie für diesen Vortrag ein Hausverbot erteilt hat, ist der Vortrag im Kaffee „Constanze“ in Wustrau gehalten worden.