Kameradschaft
Der meist gegen alle Deserteure gerichtete Vorwurf argumentiert mit dem Begriff der soldatischen „Kameradschaft“: Über die unter allen Bürgern einzuhaltenden Pflichten hinaus treffe Soldaten eine besondere „Kameradschaftspflicht“. Auch in dem verbrecherischen Vernichtungskrieg Hitlers hätten Akte der Notwehr und des Widerstandes nicht zu einer mit dem Leben deutscher Soldaten führenden Beeinträchtigung der Kampfkraft der Wehrmacht führen dürfen. Eine Ausnahme machen die Rehabilitierungsgegner nur für höhere Offiziere. Dass beispielsweise der Oberstleutnant Hans Oster, ein Teilnehmer des Widerstandes vom 20. Juli 1944, in den Jahren 1938 bis 1941 deutsche Angriffspläne und Angriffstermine an das Ausland verriet und damit nach den Vorstellungen der Rehabilitierungsgegner das Leben deutscher Soldaten gefährdete, wird nicht einmal von dem Bundestagsabgeordneten Norbert Geis beanstandet (zu Doppelstandards bei der Beurteilung des Verhaltens einfacher Mannschaftsgrade und höherer Offiziere vgl. Wolfram Wette: Das letzte Tabu. Kriegsverrat, S. 32 – 41). In selektiver Wahrnehmung der Widerstandsformen wird den Funktionseliten ein Privileg zum Widerstand eingeräumt, unter Ausgrenzung des Widerstandes der "kleinen Leute".
Weil die „Kameradschaftspflicht“ auch in den Jahren 1939 bis 1945 oberstes Gebot geblieben sei, hätten nach Ansicht der Rehabilitierungsgegner einfache Soldaten niemals mit den alliierten Streitkräften zusammenarbeiten dürfen, so sehr diese auch die Befreiung der Welt vom nationalsozialistischen Terror angestrebt hätten. Erfahrungsgemäß hätten die zum Gegner übergelaufenen Soldaten dort Angaben über die Stellungen und Frontbewegungen der eigenen Truppe gemacht und sie so in Lebensgefahr gebracht. Damit hätten sie, so Norbert Geis, sich „nach allen Maßstäben der zivilisierten Welt in höchstem Maß verwerflich verhalten“.
In der Konsequenz bedeutet der Vorwurf, ein Wehrmachtsoldat, so wenig ihm das Weiterkämpfen bis zum „Endsieg“ auch zugemutet werden konnte, nicht durch Überlaufen, sondern allein durch ein Absetzen ins Hinterland hätte desertieren dürfen, wenn auch mit der wahrscheinlichen Folge der Festnahme und der Verurteilung zum Tode. Dank seiner späten Geburt brauchte der Bundestagsabgeordnete Norbert Geis freilich seine moralische Selbstgewissheit niemals unter den Bedingungen des mörderischen und selbstmörderischen NS-Krieges auf die Probe zu stellen. Als einer, der keinen Wehrdienst geleistet hat, musste er allerdings auf das große Erlebnis echter soldatischer Kameradschaft verzichten. Auch der Abgeordnete Jörg van Essen, Rehabilitierungsgegner in der FDP-Fraktion, hat als Oberst der Reserve nie die Erfahrungen eines unteren Mannschaftsgrades machen müssen, schon gar nicht Erfahrungen wie im Zweiten Weltkrieg.
Der Begriff der „Kameradschaft“ umreißt eine Vielzahl sehr verschiedenartiger Gruppenbeziehungen. Er bezieht sich stets auf eine Gemeinschaft, die ein Mindestmaß an persönlicher Beziehung erfordert. Zwar kann es das Gefühl der „Kameradschaft“ auch in einer Räuberbande oder anderen kriminellen Vereinigung geben, z.B. auch in der Waffen-SS Heinrich Himmlers. Ob eine alle anderen Pflichten überragende familienähnliche Kameradschaft durch die Einweisung in einen aus mehreren Millionen Männern bestehenden Zwangsverband wie die Wehrmacht begründet werden kann, ist aber zweifelhaft. Zumindest kann eine über eine bloße Leerformel hinausgehende rechtliche Wirkung von „Kameradschaft“ dann nicht mehr angenommen werden, wenn in einem Krieg von der Qualität des hitlerschen Vernichtungskrieges bereits die Verweigerung an einer Mitwirkung an Völkerrechtsbruch ebenso mit der Todesstrafe bedroht ist wie ein offenes Gespräch im „Kameraden“-Kreis. Einen überzeitlichen, für sämtliche Heere der Geschichte und die Streitkräfte aller Nationen gültigen Begriff der „Kameradschaft“ gibt es nicht.
Die Annahme besonderer Pflichten gegenüber den eigenen Kameraden setzt ferner voraus, dass die Kameraden in ihrer Mehrzahl die Soldaten und Bürger der militärischen Gegner als Menschen nach den Regeln des Kriegsvölkerrechts respektieren. Das war im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite nicht der Fall. Unter der Verantwortung der Wehrmacht sind rund 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene und Millionen anderer sowjetischer Bürger teils gezielt ermordet worden, teils hat man sie verhungern und auf andere unmenschliche Weise umkommen lassen. Sie galten der Wehrmachtführung im totalen Krieg als Untermenschen.[1]
Der von der NS-Propaganda im Rahmen der Durchhalteparolen mythisch überhöhte Begriff der „Kameradschaft“ sollte heute nicht abermals missbraucht werden, um diejenigen zu schmähen und Rehabilitierung zu vereiteln, die sich weder an den gegenüber Hitler abgelegten Eid noch an die Zugehörigkeit zur Wehrmacht gebunden erachteten.
[1] vgl. dazu Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 bis 1945, Neuausgabe Bonn 1991