Gedenkstätte ohne Bürger
Gedenkstätte ohne Bürger
Helmut Kramer in der Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft <Osietzky> Heft 10/2012:
Gedenkstätten stehen, außer zu den routinemäßigen Veranstaltungen an den Jahrestagen der Befreiung der Lager, im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das könnte insoweit von Vorteil sein, als die wissenschaftliche Arbeit der Gedenkstättenmitarbeiter von aufgeregten tagespolitischen Auseinandersetzungen freigehalten werden sollte. Auch weiß man die meisten Gedenkstätten in den Händen qualifizierter Historiker, die ihrem Bildungsauftrag engagiert nachkommen. Dennoch ist öffentliche, vor allem auch fachwissenschaftliche Einmischung unverzichtbar. Ähnlich wie die Richter sind auch die Historiker an den Gedenkstätten unabhängig, geschützt vor Eingriffen von oben. Aber ähnlich wie öffentliche Justizkritik das Korrelat der richterlichen Unabhängigkeit ist, sind Bürgerbeteiligung und eine kritische Öffentlichkeit für die Gedenkstätten unverzichtbar.
Mit Recht hat der Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten sich deshalb schon bei seinem Amtsantritt zum bürgerschaftlichen Engagement »als wesentlicher Antrieb und als notwendiges Korrektiv« für die Gedenkstätten bekannt. Ja, er wolle die Basis seiner Arbeit »durch gesellschaftliche Beteiligungen noch erweitern« und »mit allen Beteiligten an den Zukunftsformen der Erinnerung arbeiten«. Was Habbo Knoch von bürgerlicher Partizipation hält, zeigte er, indem er mein ausführliches Schreiben (s. Ossietzky 9/2012) erst zwei Jahre lang überhaupt nicht beantwortete und mir sodann mangelnden Respekt gegenüber dem Wolfenbütteler Gedenkstättenleiter Wilfried Knauer vorwarf. Er verweigerte auch Gespräche mit mir und Professor Joachim Perels, dem Vorsitzenden des vom Gedenkstättenleiter boykottierten Expertengremiums (der sogenannten Kleinen Kommission) für die Gedenkstätte. Das führte dazu, daß die Gedenkstätte sämtliche ehrenamtlichen Mitarbeiter verlor. Meine Dienstaufsichtsbeschwerde wurde von dem niedersächsischen Kultusminister Bernd Althusmann ohne Begründung zurückgewiesen. Als auch die übergeordnete, für die niedersächsischen Gedenkstätten zuständige Fachkommission meine Beschwerde wortlos abtat, ohne die Gedenkstätte jemals gesehen zu haben, verlor sie auch ihren Vorsitzenden Perels. Er trat aus Protest zurück.
Der Strukturfehler der Stiftung liegt darin, daß die Mitglieder der Fachkommission auf Vorschlag des von ihr zu kontrollierenden Stiftungsgeschäftsführers berufen werden. Nach diesem Prinzip hat Knoch nach zweijähriger Ankündigung inzwischen eine neue Kommission für die Gedenkstätte berufen. Ihre Zusammensetzung wurde, gar nicht bürgernah, wie ein Staatsgeheimnis behandelt.
Bei aller Abschottung nach außen – inzwischen ist sogar das Archiv der Gedenkstätte rechtswidrig auf unabsehbare Zeit gesperrt – können der Stiftungsgeschäftsführer und der Gedenkstättenleiter sich der kritischen Beobachtung doch nicht ganz entziehen. Die Gedenkstätte Wolfenbüttel ist öffentlich, mit allgemeiner Zugänglichkeit auch ihrer Ausstellung. Weil die Verantwortlichen es aber nie verstanden haben, die Gedenkstätte mit ihrem bundesweit bedeutsamen Thema über die Wolfenbütteler Provinz hinaus bekannt zu machen, haben bislang nur wenige fachkundige Bürger den Weg nach Wolfenbüttel gefunden. So sind der mangelnde Fleiß des Gedenkstättenleiters und seine willkürlichen Eingriffe in die Ausstellung kaum aufgefallen. Als im Frühjahr 2011 die Holocaust-Forscherin Wendy Lower, Mitarbeiterin des U. S. State Holocaust Museums, sich mit einem Assistenten zu einem Besuch in Wolfenbüttel anmeldete, kam Knoch in Verlegenheit. Den renommierten Forschern konnte er die erbetene Drehgenehmigung unmöglich verweigern. Zwar mußten sie in ihrem Telefongespräch mit Knoch versichern, daß ich als Begleiter in der Gedenkstätte nicht zu Wort kommen würde und daß nur »Aufnahmen rein illustrativen Charakters« gemacht würden. Jedoch erteilte er telefonisch die Drehgenehmigung. Als wir uns zu dem mit ihm abgesprochenen Termin am 4. Juni 2011 an der Gedenkstätte einfanden, wurde uns überraschend der Zutritt verweigert. Die von Knoch zugesagte schriftliche Genehmigung war ausgeblieben. Auch der Verzicht der Holocaust-Forscher auf jegliche Aufnahmen half nicht. Der uns erwartende Mitarbeiter erklärte, auch wenn er die beiden Holocaust-Forscher einlassen würde wie jeden anderen Bürger würde er in »größte dienstliche Schwierigkeiten kommen«. Ein späterer Briefwechsel mit dem niedersächsischen Justizminister Bernd Busemann läßt darauf schließen, daß ein ausdrückliches Verbot vorlag. Die beiden Forscher mußten unverrichteter Dinge nach München zurückreisen. So wird man im Holocaust-Museum in Washington weiterhin nichts davon erfahren, daß die meisten Täter aus der Wolfenbütteler Ausstellung ausgeklammert sind. Mehr als solche Peinlichkeiten scheinen die verbeamteten Verantwortlichen aber zu fürchten, daß die vom Gedenkstättenleiter Knauer geschaffenen Ausstellungslücken sachkundigen Besuchern zu Gesicht kommen.
Die Scheu, die Ausstellung von Experten begutachten zu lassen, zeigte sich schon wenige Monate später. Elf Mitglieder des Forums Justizgeschichte, allesamt Rechtshistoriker und Juristen, hätten sich für den 21. Januar 2012 bei der Gedenkstätte angemeldet. Später hieß es, die Mails seien nicht angekommen. Als die aus der gesamten Bundesrepublik angereisten Wissenschaftler sich an der Pforte der Justizvollzugsanstalt meldeten, erfuhren sie von dem Beamten, bis auf zwei Teilnehmer dürfe er die Gruppe nicht einlassen. Gegenvorstellungen, auch mit dem Hinweis auf die rechtzeitige Anmeldung, waren vergeblich, ebenso ein Telefongespräch des Beamten mit dem im Haus anwesenden Gedenkstättenleiter. Er weigerte sich, zu uns zu kommen, uns wenigstens die Gründe für die Zurückweisung zu erläutern. Sein Vorgesetzter Knoch hatte die Gedenkstätte zehn Minuten vorher verlassen. Ein auf unsere Bitten herbeigerufener Mitarbeiter der Gedenkstätte war gern bereit, uns durch alle Räume der Justizvollzugsanstalt (JVA) zu führen, eine Führung durch die Gedenkstätte sei ihm aber ausdrücklich verboten.
Nach langem Hin und Her gelang es dem Vorsitzenden des Forums Justizgeschichte, Thomas Henne, in einem langen Gespräch den Gedenkstättenleiter zur Aufgabe seines Widerstandes zu bewegen. Statt die seit einer Stunde an der Pforte wartenden Besucher zu begrüßen, blieb der Gedenkstättenleiter weiterhin in seinem Büro sitzen. Der von ihm mit der Führung beauftragte Justizvollzugsbeamte mußte eine weitere Stunde warten, bis er die in dem kalten Vorraum der JVA durchgefrorenen Wissenschaftler durch die Gedenkstätte führen durfte.
Schwierigkeiten beim Zugang zu der Gedenkstätte hatte es schon immer gegeben. Mitunter war sie tagelang geschlossen. Auch wer sich während der Geschäftszeit auf dem Anrufbeantworter anmeldete, fand zu den angekündigten Zeiten die Gedenkstätte unbesetzt. Die Lage der Gedenkstätte in einer JVA mit entsprechenden Sicherheitserfordernissen bedingt, daß die Bürger sich möglichst vorher anmelden. Bis man einen Termin erhält, vergehen meist Wochen. Andere Institutionen, die nicht ständig zu bestimmten Tageszeiten geöffnet sein können, behelfen sich mit dem Angebot, daß man sich zu einer Sammelführung etwa am letzen Tag eines Monats anmelden kann.
Aber womit verbringt der von einer Sekretärin und mehreren pädagogischen Mitarbeitern unterstützte Gedenkstättenleiter seine Arbeitszeit? Die Jahresberichte der Gedenkstätte bringen als Tätigkeitsnachweis nur pauschale und verschwommene Angaben. So werden als »Arbeitsschwerpunkt« Fortbildungsveranstaltungen zur NS-Justiz genannt, obgleich der Gedenkstättenleiter die früher alljährlichen mehrtägigen Tagungen für Richter und Staatsanwälte sowie mehrtägige Seminare für Gerichtsreferendare und für Pädagogen im Jahre 2002 eingestellt hat. Geblieben sind mit routinemäßigen Kurzvorträgen verbundene gelegentliche Führungen von Richtern und Staatsanwälten und Referendaren sowie die Besuche der Teilnehmer von Veranstaltungen der Justizministerien der Bundesländer.
Besonders ausgelastet sieht sich der Gedenkstättenleiter durch »Schicksalsklärung« infolge des »kontinuierlichen Anstiegs von Anfragen durch Familienangehörige« der Opfer.
Wer wissen möchte, was sich dahinter verbirgt, erfährt von einem »intensiven Betreuungsaufwand in Kontakt mit den Familien in einem komplexen Prozeß individual- und sozialpsychologischer Phänomene«. Der Öffentlichkeit teilt Knauer gern mit, wie sehr ihn die Opferschicksale innerlich mitnehmen, so sehr, daß er es »kaum noch aushält«. Doch von Anbeginn seiner 1990 aufgenommenen Tätigkeit versäumte der Gedenkstättenleiter, überlebende Opfer und die noch lebenden Täter als Zeitzeugen zu befragen. Neben der »Schicksalsklärung« will der Gedenkstättenleiter durch »umfangreiche Bemühungen zur Durchsetzung der »Aufhebung von Todesurteilen« in Anspruch genommen sein. Tatsächlich sind alle Unrechtsurteile durch den Gesetzgeber, nämlich durch die Unrechtsaufhebungsgesetze von 1999 und 2002, schließlich auch durch die gesetzliche Rehabilitierung im Jahre 2009 automatisch aufgehoben worden. Zur Beantwortung der Fragen von Angehörigen nach dem Fortbestand der Urteile genügt ein Hinweis auf diese Gesetze. Für den, der auf eine amtliche Bescheinigung Wert legt, genügt es, daß der Gedenkstättenleiter die Bescheinigung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft erbittet. Es genügt, eine Kopie des Todesurteils beizufügen. Allerdings könnte die Gedenkstätte einmal auf Tagungen und in den noch immer ausstehenden Veröffentlichungen thematisieren, wie es in früheren Jahrzehnten Juristen gelang, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und wirklich mühevoll in eigener privater Initiative die gerichtliche Aufhebung solcher Todesurteile und schließlich die Verabschiedung jener Unrechtsbeseitigungsgesetze zu erreichen.
Auch für die Fachöffentlichkeit scheinen solche Probleme kein Thema zu sein. Gerade von denen, die sich ein eigenes Urteil erlauben können, sind kritische Worte kaum zu erwarten. Erfahrungsgemäß kommt berufliches Versagen oft erst ans Licht, wenn sich Insider öffentlich äußern. Im Gedenkstättenbereich gibt es aber nicht nur die übliche Gruppenkonformität und kollegiale Rücksichtnahme, sondern auch die Sorge um das berufliche Fortkommen in einem Berufsfeld, in dem sich viele Historiker mit Zeit- und Werkverträgen herumschlagen müssen. Ehrenamtliche Mitarbeiter sind vom Wohlwollen der Hauptamtlichen abhängig. Deshalb gibt es in fundamentalen Fragen keine wirkliche Gedenkstättenkritik, kein Forum, in dem Mißstände und gravierende Defizite in aller Offenheit diskutiert werden. In dem von der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin herausgegebenen, sonst durchaus ambitionierten GedenkstättenRundbrief sucht man vergeblich nach Berichten, die Historikerkollegen notfalls auch einmal wehtun könnten.