Primäraufgabe Opfergedenken
Primäraufgabe Opfergedenken
Der Gedenkstättenleiter hat im Einvernehmen mit dem Stiftungsgeschäftsführer auch die „Primäraufgabe Opfergedenken“ vernachlässigt
Wenn man auf der „Primäraufgabe“ des Opfergedenkens beharrt, wie es in dem Schreiben des Stiftungsgeschäftsführers vom 02.12.2009 geschieht, dann sollte man diese Aufgabe nicht nur im Munde führen, sondern sie auch erfüllen. Dann sollte die Gedenkstätte von den Opfern des Sondergerichts Braunschweig nicht nur einen einzigen Namen – Erna Wazinski – nennen, sondern in Täterbiographien oder Themenordnern auch auf einige besonders interessante Opfer und Opfergruppen mit erschütternden Schicksalen hinweisen.
Beispielsweise das Todesurteil gegen den Helmstedter Juden Moritz Klein, eines der reichsweit skandalösesten Todesurteile. Zu diesem Fall und seiner beschämenden Aufarbeitung nach 1945 wird von mir demnächst eine kleine Abhandlung erscheinen. Mittels einer Opferbiographie hätte auch der wegen Bagatelldelikten verurteilten jungen französischen bzw. italienischen Zwangsarbeiter Marcel Tanniou und Francesco Paolin gedacht werden müssen. Zugleich hätte sich hier eine Gelegenheit geboten, an die Ungerührtheit und Gleichgültigkeit von Juristen nach Kriegsende zu erinnern: Der Abschiedsbrief des 18jährigen Francesco Paolin an seine Mutter wurde nicht einmal nach dem Krieg weitergeleitet; erst ich habe das später veranlaßt. Oder (eine wenig beachtete Opfergruppe): Verfolgung wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitern. So das Urteil des Sondergerichts Braunschweig vom 2. Juni 1942, durch das die landwirtschaftliche Arbeiterin Martha Stübig wegen eines Liebesverhältnisses mit einem französischen Kriegsgefangenen zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. In einen entsprechenden Themenordner könnte auch etwa folgender Fall aufgenommen werden: Das Amtsgericht Helmstedt verurteilte am 26. März 1940 die landwirtschaftliche Arbeiterin Herta Rösner zu einer Gefängnisstrafe, weil sie einem in der Nähe arbeitenden polnischen Kriegsgefangenen durch ihr vierjähriges Kind einen Teller Pudding schickte. Durch diesen Umgang mit einem Kriegsgefangenen habe sie das „gesunde Volksempfinden gröblich verletzt“; so daß wenigstens zwei oder drei Beispiele für bloße Meinungsdelikte: Verurteilung wegen Wehrkraftzersetzung oder Heimtücke. Auch um anschaulich zu machen, dass nicht alle Bürger den NS-Terror billigten und widerspruchslos hinnahmen: Noch am 6. Februar 1945 verurteilte das Braunschweiger Sondergericht die 67-jährige Hausfrau Margarete Klein zu einer Gefängnisstrafe, weil sie sich in einem Luftschutzbunker für eine menschliche Behandlung von Juden eingesetzt hatte.
Besonders exemplarisch, darzustellen in einer kombinierten Täter-/Opferakte ist auch das erschütternde Schicksal der Familie Heinemann in Schöningen, ein Fall, in dem gleich drei Verfolgungskomplexe der NS-Justiz eindrucksvoll zusammenfallen: Verfolgung der Opposition, NS-„Euthanasie“, Judenverfolgung und die Meinungsunterdrückung durch die Unrechtsjustiz des Braunschweiger Sondergerichts: Der Schneider Kurt Heinemann war seit 1929 verheiratet mit Helene Heinemann. Er wurde zusammen mit 10 anderen Kommunisten und Sozialdemokraten am 4. Juli 1933 in Rieseberg bei Königslutter ermordet. Als Ehefrau eines Kommunisten wurde Helene Heinemann samt ihren Kindern in die Asozialität ausgegrenzt. Die nationalsozialistischen Jugendbehörden überwiesen die Brüder Günther und Wolfgang Heinemann 1941 als angeblich bildungs- und erziehungsunfähig an die Fürsorgeerziehung und brachten sie in den Neuerkeröder Anstalten unter. Am 16. Juni 1943 verfügte das Braunschweiger Staatsministerium die umgehende Einweisung der Brüder in die Landesheilanstalt Hadamar. Dort wurden sie im Rahmen der 14 F-13-Euthanasie ermordet. Die Mutter, wohlwissend was ihren Kindern bevorstand, hatte sich vergeblich nach Hadamar begeben, um ihre Kinder frei zu bekommen. Als sie nach Erhalt der Todesnachricht für den jüngeren Sohn nach Hadamar kam und nach der Todesursache fragte, erklärte ihr der Chefarzt Dr. Wahlmann, „damit müssen Sie sich abfinden, Frau Heinemann. Judenkinder müssen ausgerottet werden“. Nachdem Frau Heinemann nach dem Tod ihres Mannes auch ihre beiden Kinder genommen worden waren, lehnte sie die weitere Arbeit in der Rüstungsindustrie ab und bat um anderweitige Beschäftigung. Deshalb wurde sie vom Sondergericht Braunschweig mit drei Monaten Gefängnis bestraft.
Und warum wird in Wolfenbüttel mit keinem Wort an die seit einigen Jahren in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geratene Wehrmachtsjustiz erinnert? So wurde in Wolfenbüttel eine von einem Marinekriegsgericht in Wilhelmshaven zum Tode verurteilte Wehrmachtsangestellte hingerichtet. Diese Beispiele sind eine Zufallsauswahl, ebenso gut könnte man aus dem vorhandenen Material andere nicht minder signifikante Fälle zusammenstellen. Leider hat der Gedenkstättenleiter niemals entsprechende Vorschläge in der Kleinen Kommission zur Diskussion gestellt. Dabei hätte auch erörtert werden können, inwieweit mit solchen „zur Primäraufgabe gehörenden“ Opfergeschichten nicht zwangsläufig auch die Tätergeschichte verbunden werden muß. Auch hier ist von der von Herrn Dr. Knoch in seinem Schreiben an Herrn Prof. Perels vom 16.07.2010 geforderten „ergebnisoffenen und rational geführten Fachdiskussion“ nichts zu spüren.
Der Stiftungsgeschäftsführer meint kategorisch, dass die personelle Ausstattung der Gedenkstätte irgendwelche Erweiterungen der bestehenden Gedenkstätte nicht „zulässt“. Wenn es aber zu der Verwirklichung des von der Kleinen Kommission verbindlich beschlossen und niemals geänderten Ausstellungskonzepts an vorhandenen Arbeitsressourcen (oder Mangel an Fachkenntnissen?) fehlen sollte, warum hat man sich dann nicht um sich bietende ehrenamtliche Hilfen im Kreis von Experten, etwa zum Thema des Braunschweiger Sondergerichts bei Herrn Dr. Ludewig bemüht? Oder zum Thema Justiz und Euthanasie bei Dr. Raimond Reiter? Wenn ich auch mich nennen darf als durch meine Veröffentlichungen bundesweit ausgewiesenen Experten u. a. zur Beteiligung der Justiz am Anstaltsmord und der Straflosstellung der Täter nach 1945, warum hat der Anstaltsleiter mich niemals um Hilfe bei der Anfertigung eines Täter- oder Themenordners gebeten, sondern seit etwa eineinhalb Jahrzehnten jeden nicht absolut unvermeidlichen Kontakt mit mir abgebrochen, wie er sich auch niemals um Kontakt mit anderen Experten zur NS-Justiz bemüht hat? Nichts anderes gilt für die missglückte Darstellung des Tatkomplexes „Vernichtung durch Arbeit“. Weil dieser Tatkomplex des Reichsjustizministeriums und vieler Strafanstaltsdirektoren bislang nur kurz und die strafrechtliche Aufarbeitung nach 1945 überhaupt noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet worden ist, habe ich dazu für Heft 11 der von der Gedenkstätte Neuengamme herausgegebenen „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“ einen grundlegenden Aufsatz („Der Beitrag der Juristen zum Massenmord an Strafgefangenen und die strafrechtliche Ahndung nach 1945“) geschrieben. Bevor der Gedenkstättenleiter die Kleine Kommission boykottiert hat, hatte er diesen Tatkomplex, für den ich ihm reichhaltiges Material geliefert hatte, einmal kurz erwähnt. Dies mit dem Bemerken, bislang habe er noch keine Hinweise auf derartige Überstellungen von Wolfenbütteler Strafgefangenen. Das stand aber der Anfertigung eines Themen- bzw. Täterordners nicht entgegen. Dasselbe gilt für das Thema „Justiz und Zwangsarbeit“. An einer Kooperationsbereitschaft auf meiner Seite habe ich es nie fehlen lassen. Ich verweise nur auf die von mir mit Erfolg angeregte Tagung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, nebst dem von mir mitherausgegebenen Tagungsband „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz“, Nordhausen 2007.
Besonders bedauerlich ist das Fehlen eines Themenordners zum Komplex „Justiz und Judenverfolgung“. Zwar hat es unverständlicherweise bis vor einigen Jahren außer einigen Detailstudien keine einzige Veröffentlichung zum Thema „Der Beitrag der Juristen zur Entrechtung und Ermordung der Juden“ gegeben, bis ich auf Bitten der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz eben diese Darstellung verfaßt habe (vgl. Helmut Kramer: „Die Verrechtlichung des Unrechts. Der Beitrag der Juristen zur Entrechtung und Ermordung der Juden, in: Alfred Gottwaldt, Norbert Kampe und Peter Klein (Hg.): NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Bd. 11 der Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz. Berlin 2005, S. 87 - 103.
Wie man aus diesen und anderen in Zusammenarbeit mit anderen Gedenkstätten und sonstigen Institutionen entstandenen Veröffentlichungen und Tagungen ersehen kann, habe ich es niemals an Kooperationsbereitschaft auf meiner Seite fehlen lassen. Dasselbe gilt übrigens für auf meine Empfehlung von der Gedenkstätte zu den wenigen in Wolfenbüttel durchgeführten Tagungen hinzugezogenen Referenten, wie Professor Dr. Dr. Ingo Müller, den Richter Dr. Klaus-Detlev Godau-Schüttke und andere Experten zur NS-Justiz. Warum der Gedenkstättenleiter später die Tagungen ersatzlos gestrichen und sich auch sonst nicht um die Fortsetzung der Kommunikation mit solchen Experten bemüht hat, ist eine der vielen Fragen, deren Beantwortung der Gedenkstättenleiter und der Stiftungsgeschäftsführer beharrlich verweigern.
An möglichen Hilfestellungen fehlte es somit nicht, doch hat der zur Kommunikation nicht bereite Gedenkstättenleiter von den Angeboten von mir und von anderen Experten keinen Gebrauch gemacht.
Nach den Worten des Stiftungsgeschäftsführers (Schreiben vom 02.12.2009) „gebietet es der Respekt vor den Opfern, an dieser Primäraufgabe (gemeint ist die Klärung von Opferschicksalen) keine Abstriche zu machen.“ Wie wenig ernst der Stiftungsgeschäftsführer und der Gedenkstättenleiter das meinen, illustrieren die zahlreichen leer gebliebenen Aktenschuber der Gedenkstätte. Seit vielen Jahren ist kaum eine Opferakte hinzugekommen, ebenso wie es seit ungefähr dem Jahre 2000/2001 bei den kümmerlichen vier Täterbiographien geblieben ist.
Helmut Kramer
November 2010